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Morde bleiben unentdeckt

Von Petra Tempfer

Politik
Jeder dritte Mord könnte ungesühnt bleiben, indem er als scheinbar natürlicher Todesfall qualifiziert wird.
© adobe.stock / channarongsds

Nur 1 bis 2 Prozent aller Verstorbenen werden gerichtlich obduziert - der Mangel an Gerichtsmedizinern ist eklatant, und die Anzahl der Obduktionen sinkt.


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Gerichtsmediziner zu erreichen, um mit ihnen über ihre Situation zu sprechen, ist schwierig. Gesprächstermine werden aufgrund eines übervollen Terminkalenders und zusätzlicher Einsätze mehrmals verschoben - der Personalmangel ist offenbar eklatant. Der Gerichtssachverständigenliste der Justiz zufolge gibt es nur noch 24 allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Sachverständige der Gerichtsmedizin in Österreich. "Vor allem im Osten stehen einige weitere vor der Pensionierung", sagt dazu Fabio Monticelli vom Institut für Gerichtliche Medizin Salzburg-Linz und Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin (ÖGGM), als dieser schließlich Zeit für ein Gespräch findet. Auch die Anzahl der Obduktionen sinkt.

Und zwar massiv: Wurden 1984 laut Statistik Austria noch 30.737 Obduktionen durchgeführt, waren es im Vorjahr nur noch 7.272. Das ist eine Reduktion um rund 76 Prozent, wobei es regionale Unterschiede gibt. Im Westen sei die Situation nicht so gravierend, sagt Monticelli. Der Anteil der gerichtlich angeordneten Obduktionen, etwa bei Mordverdacht, liegt dabei bei circa 17 Prozent. Sie werden von Gerichtsmedizinern durchgeführt und von der Staatsanwaltschaft beantragt. Für die 15 Prozent sanitätsbehördlichen Obduktionen, wenn eine Gesundheitsbehörde eine Todesursache ermitteln will, können neben Gerichtsmedizinern, je nach Bundesland, mitunter auch Pathologen tätig sein. Der dominierende Anteil von 68 Prozent an klinischen Obduktionen - hier erteilen Ärzte den Auftrag - obliegt ausschließlich den Pathologen.

"Es bewirbt sich fast niemand"

Es sind die gerichtlichen Obduktionen, die helfen sollen, Morde aufzuklären und für Gerechtigkeit zu sorgen. Konkret setzt ein Todesfall mit deutlichen Anzeichen für ein Fremdverschulden mehrere Zahnräder in Gang. Die Polizei teilt es der Staatsanwaltschaft mit, die eine Tatort-Gruppe rekrutiert. Dieser gehören Beamte des jeweiligen Landeskriminalamtes sowie ein Gerichtsmediziner und andere nachgeschaltete Sachverständige an. Aufgrund der geringen Anzahl der Gerichtsmediziner und der niedrigen Obduktionsrate geht ÖGGM-Präsident Walter Rabl vom Institut für Gerichtliche Medizin Innsbruck aber davon aus, dass jeder dritte Mord ungesühnt bleiben könnte, indem er als scheinbar natürlicher Todesfall qualifiziert wird.

Die Dunkelziffer der unerkannten Tötungsdelikte sei auch zahlreichen weiteren Schätzungen zufolge jedenfalls hoch, ergänzt Monticelli. Und: "Nur 1 bis 2 Prozent aller Verstorbenen werden in Österreich einer gerichtlichen Obduktion zugeführt", sagt er. "Das ist gegenüber dem Ausland ein sehr niedriges Niveau." Insgesamt werden laut Statistik Austria rund 8 Prozent aller Verstorbenen obduziert, also gerichtlich, sanitätsbehördlich oder klinisch.

Der Mangel an Gerichtsmedizinern ziehe sich zwar durch den gesamten deutschsprachigen Raum, so Monticelli weiter, Österreich habe aber einen ganz speziellen Wettbewerbsnachteil. "Wenn ein Gerichtsmediziner in Deutschland oder der Schweiz doppelt so viel verdient, wird Österreich ein Problem haben, ihn zu rekrutieren", sagt er. Zuletzt habe man eine Facharztstelle vier Mal ausgeschrieben - "es bewirbt sich fast niemand".

Nach sechs Jahren Medizinstudium, weiteren sechs Jahren Facharztausbildung und fünf Jahren Praxis, die für die Eintragung als Sachverständiger der Gerichtsmedizin Voraussetzung sind, erhält dieser für eine einfache Obduktion laut Gebührenanspruchsgesetz nur eine Pauschale von rund 100 Euro. Für die Leichenbeschau mit kompliziertem Gutachten kann es etwas mehr sein.

Mangel an Pathologen droht ebenfalls

Zudem habe die vor einigen Jahren beschlossene und mittlerweile in Kraft getretene Novellierung der Facharztausbildungsordnung eine Angleichung im deutschsprachigen Raum deutlich erschwert, so Monticelli. Damit sinke die Attraktivität für Auszubildende aus dem Ausland, nach Österreich zu kommen, weiter.

Aber auch die Ausbildungsplätze zum Facharzt für Gerichtsmedizin sind rar gesät. Einzelne Plätze gibt es nur in Graz, Salzburg, Innsbruck und Wien. Bereits 2014 stellte der Österreichische Wissenschaftsrat in einem Gutachten eine mangelnde Ausbildung von Gerichtsmedizinern, fehlende Berufsperspektiven sowie Finanzmängel fest.

Nicht nur die geringe Anzahl der Gerichtsmediziner ist alarmierend. Auch die Klinischen und Molekularpathologen, die Diagnosen an Gewebe- und Zellmaterial stellen und sanitätsbehördliche und klinische Obduktionen durchführen, steuern einem Fachärztemangel entgegen, warnt Christa Freibauer, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Pathologie. Laut Ärztekammer sind rund 350 Pathologen gemeldet. Aber nicht alle stünden der Versorgung tatsächlich zur Verfügung, so Freibauer zur "Wiener Zeitung". "Denn auch Ärzte, die schon in Pension sind und hin und wieder Vertretungen übernehmen, sind hier gelistet und verzerren die Statistik nach oben. In Niederösterreich bewegt sich das bei etwa 25 Prozent der gemeldeten Fachärzte, die gar nicht oder nur teilweise zur Verfügung stehen."

Medizinische Diagnostik hat sich verbessert

Die Situation werde sich weiter verschärfen. Ein großer Teil der Pathologen sei zwischen 55 und 60 Jahre alt - und damit nahe der Pension. Auch der Frauenanteil, und mit diesem der Anteil der Teilzeitbeschäftigten, steige an. Noch liegt er laut Freibauer bei etwa 50 Prozent, bei den Facharztprüfungen der vergangenen Jahre überwogen aber bereits die Absolventinnen deutlich: 2019 etwa waren von 16 Kandidaten 13 weiblich, 2018 waren es von 11 insgesamt 8.

Es könnte aber noch ein weiterer Punkt eine Rolle spielen, dass die Gesamtzahl aller Obduktionen seit den 80er-Jahren derart drastisch gesunken ist, meint Freibauer. "Die medizinische Diagnostik und zum Beispiel die Bildgebung bei Organuntersuchungen sind heute um so vieles besser als vor 40 Jahren - dadurch bleiben bei Sterbefällen wohl auch insgesamt weniger Fragen offen."