Zum Hauptinhalt springen

Morden für das Weltpublikum

Von Alexander Dworzak

Politik

Assad-Regime holt laut Medienbericht Chemiewaffen aus dem Lager.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Damaskus. Es ist das größte Blutbad seit Beginn des Aufstandes gegen Syriens Machthaber Bashar al-Assad vor 16 Monaten: In der westsyrischen Ortschaft Taramseh wurden 150 bis 250 Personen ermordet; Männer, Frauen, Kinder und Greise. "Zutiefst besorgt" zeigte sich UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon, "tief schockiert" die Außenbeauftragte der EU, Catherine Ashton. US-Außenministerin Hillary Clinton sagte am Freitag, der UN-Sicherheitsrat müsse nun deutlich handeln.

Kein Zweifel besteht an der Tat, jedoch Unklarheit bei den Mördern - auch wenn Clinton von "unbestreitbaren Beweisen" für die Ermordung von Zivilisten durch das Regime sprach. Die oppositionelle "Allgemeine Kommission für die Syrische Revolution" schildert, die Armee habe das Dorf am Donnerstag zuerst belagert und unter Beschuss genommen. Dann seien Milizionäre des Regimes aus umliegenden Dörfern in den Ort gekommen, um die Menschen in ihren Häusern umzubringen. Die Rebellen fordern angesichts der Toten - wie seit Monaten - eine militärische Intervention zum Sturz Assads. Das Regime macht hingegen die Opposition für die Tat verantwortlich. Diese wolle nach Leseart von Assads Getreuen die Weltöffentlichkeit gegen den Präsidenten aufhetzen.

"Je vehementer ein Konflikt, desto intensiver dessen Symbolik, um internationale Unterstützung zu erreichen", analysiert der Syrien-Experte Michael Zürn im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Zum jetzigen Stand könne niemand beurteilen, wer für das Massaker verantwortlich ist - ein Missbrauch durch die Opposition sei genauso möglich wie ein Angriff des Militärs samt der gefürchteten Shabiha-Milizen, so der Forscher des Wissenschaftszentrum Berlin. Berichte von Aktivisten und mit ihnen kooperierender Gruppen können nur selten überprüft werden. Sowohl Regime als auch Opposition versuchen immer wieder, sich als Opfer, die Gegenseite als Täter darzustellen. Syriens Machthaber und die staatlichen Medien bezeichnen etwa die Aufständischen stets als "Terroristen" - und spannen damit für die TV-Konsumenten eine gedankliche Brücke von Syrien zum Kampf gegen das Terrornetzwerk Al-Kaida.

Militärisches Patt

Reguläre Streitkräfte und die Rebellen befinden sich in einer blutigen Pattstellung. Die Oppositionellen können Assad nicht aus eigener Kraft stürzen, aber auch nicht bezwungen werden. Dieses Patt spiegelt sich im UNO-Sicherheitsrat wider: Die westlichen Vetomächte USA, Frankreich und Großbritannien scheiterten auch mit ihrem neuesten Vorschlag. In diesem wurde die syrische Regierung aufgefordert, binnen zehn Tagen den Gebrauch schwerer Waffen einzustellen und die Truppen aus den Städten abzuziehen. Moskau ist weiter strikt gegen jeden Druck von außen auf Assad.

So zynisch es klingen mag: Ein Massaker, das die weltweite Öffentlichkeit erschüttert, vermag dieses Gleichgewicht ins Wanken zu bringen. Ende Mai schien ein solcher Wendepunkt erreicht, als in der Ortschaft Houla 108 Personen bei einem Massaker ermordet wurden, darunter 49 Kinder. Rufe nach einer militärischen Intervention wurden daraufhin lauter als je zuvor. Sie stützten sich auf Bilder arabischer Nachrichtensender und den Besuch von UNO-Beobachtern vor Ort.

Für das Gemetzel waren jedoch nicht Regierungstruppen verantwortlich, schlussfolgerte zwei Wochen später die "Frankfurter Allgemeine". Gestützt auf Augenzeugenberichte schrieb deren Korrespondent, dass die Opfer - schiitische und alawitische Mitglieder von drei Familien - von bewaffneten Sunniten getötet wurden.

Trotz offener Fragen bei bestimmten Ereignissen warnt Experte Zürn davor, die "grundlegende Perspektive von Täter und Opfer" auf den Kopf zu stellen. Mit äußerster Brutalität versucht Syriens Präsident, den Aufstand niederzuschlagen. Unzweifelhaft ist, dass im Namen des Regimes vergewaltigt, gemordet, gefoltert und geplündert wird. Das Militär setzt Artillerie, Panzer und Hubschrauber ein, schreckt aber noch davor zurück, die Städte mit Kampfflugzeugen zu bombardieren oder biologische Kampfstoffe einzusetzen. Allerdings wurde nun damit begonnen, Chemiewaffen aus dem Lager zu holen. Das berichtet das "Wall Street Journal" unter Berufung auf US-Regierungskreise. Syrien besitzt größere Mengen am Nervenkampfstoff Sarin und dem Hautgift Senfgas. Nach Schätzungen von Experten für die "FAZ" setzt das Regime aber drei Viertel der Armee nicht ein, weil es von der Loyalität bestimmter Einheiten nicht überzeugt ist - darunter Verbände mit überwiegend sunnitischen Soldaten.

Ultimatum an Soldaten

Auf der Gegenseite der Rebellen gehen regelmäßig Waffen aus den Nachbarländern Türkei, Libanon Jordanien ein; Katar und Saudi-Arabien zählen ebenfalls zu den Unterstützern. Die Freie Syrische Armee als loser Zusammenschluss wird stärker, Experte Zürn hätte deren "Beharrlichkeit vor zwei Monaten noch nicht erwartet". Die Aufständischen sind aber zu schwach und zu zerstritten, um Damaskus einzunehmen. Mit geschätzt 40.000 bewaffneten Männern sind sie laut "FAZ" aber stark genug, um die sicheren Rückzugsgebiete für ihren Guerillakrieg ständig auszubauen. Deserteure haben nun Soldaten der Regierungstruppen eine Frist bis Ende Juli gesetzt, um ebenfalls überzulaufen. Wer bis dahin nicht die Fronten wechsle, müsse damit rechnen, getötet zu werden, hieß es in einer Erklärung von Oberst Kassem Saadeddin am Freitag.

Die Kämpfe in Syrien werden beim Nachbarn Libanon mit Sorge verfolgt. Dort ist der Friede zwischen Sunniten, Schiiten und Christen fragil. Präsident Michel Sulaiman unterstrich bei einem Treffen mit François Hollande, man wolle einen konfessionellen Bürgerkrieg verhindern; Frankreichs Präsident sicherte Unterstützung zu. Keine Hilfe erhalten dagegen die knapp 30.000 syrischen Flüchtlinge im Libanon; für deren Versorgung fehle das Geld, heißt es lapidar.