In der Türkei reißen die Proteste nach dem gewaltsamen Tod einer 20-jährigen Studentin nicht ab.
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Istanbul. Sie war mit dem Minibus auf dem Weg nach Hause, als der Fahrer stoppte, sie versuchte zu vergewaltigen und dann umbrachte. Ihre verbrannte Leiche wurde am Freitag in einem Flussbett entdeckt, zwei Tage, nachdem ihre Familie sie als vermisst gemeldet hatte. Jetzt trauert die Türkei um die 20-jährige Studentin Özgecan Aslan aus der Provinz Mersin an der Ägäis. Doch zugleich gingen in einer beispiellosen Protestwelle Zehntausende landesweit auf die Straße, um von der Regierung mehr Schutz für Frauen zu fordern.
Die Politik reagiert. Premier Ahmet Davutoglu schwor am Sonntag auf einem Frauenkongress seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP: "Wer auch immer die Hände nach Frauen ausstreckt, dessen Hände sollen zerbrechen." Zwei seiner Minister forderten die Wiedereinführung der Todesstrafe. Präsident Erdogan kondolierte der Familie des Opfers am Telefon, seine beiden Töchter statteten ihr einen Beileidsbesuch ab. Doch Frauenverbände werfen der AKP vor, viel zu wenig gegen die grassierende Gewalt gegen Frauen zu tun.
Der verdächtige Busfahrer Suphi A. wurde inzwischen verhaftet und hat den Mord nach Polizeiangaben gestanden. Im Verhör räumte der 26-Jährige ein, dass er die Studentin vergewaltigen wollte, nachdem alle Fahrgäste ausgestiegen waren. Als sie sich wehrte, habe er auf sie eingestochen und ihr mit einem Eisenstab auf den Kopf geschlagen. Anschließend habe er die Leiche mithilfe seines Vaters und eines Freundes verbrannt und versteckt. Die beiden mutmaßlichen Komplizen wurden ebenfalls festgenommen.
Zum Begräbnis von Özgecan Aslan in Mersin strömten am Sonntag mehr als 5000 Menschen. Ihr Sarg wurde entgegen der üblichen islamischen Praxis von Frauen getragen. Auf Twitter berichteten Frauen unter dem Hashtag #sendeanlat ("Erzähl auch du es") über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung - etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln. Unterdessen erklärte die sozialdemokratische Oppositionsabgeordnete Sezgin Tanrikulu, seit dem Regierungsantritt der AKP vor 13 Jahren hätten sich Vergewaltigungen vervierfacht und Morde an Frauen seien um 1400 Prozent angestiegen. Nach Angaben der unabhängigen Nachrichtenagentur Bianet fielen im vergangenen Jahr in der Türkei mindestens 281 Frauen männlicher Gewalt zum Opfer.
"Wer Minirock trägt..."
Die Reaktion auf das Verbrechen spiegelte die tiefe politische Spaltung des Landes wider. So erklärte Mehmet Görmez, Chef der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, dass Aslan "Opfer einer brutalen und gewalttätigen Kultur" geworden sei, womit er offensichtlich die säkulare Kultur der türkischen Republik meinte. Der populäre regierungsnahe Sänger Nihat Dogan rief einen Sturm der Empörung hervor, als er auf Twitter schrieb: "Wer Minirock trägt und sich nackt macht, kann sich nicht beschweren, wenn er von unmoralischen Perversen belästigt wird, die das säkulare System erzeugt." Dagegen warf die liberale "Hürriyet" der Diyanet vor, zu allem und jedem eine religiöse Fatwa zu erlassen, aber noch nie Vergewaltigung und sexuelle Belästigung verdammt zu haben. Linke Frauenverbände kritisieren seit Jahren, dass nötige Schutzgesetze stets versprochen, aber nie erlassen würden, die Strafen für Vergewaltigung zu gering seien und frauenfeindliche Bemerkungen von AKP-Politikern die Gewalt begünstigten. So hatte Erdogan erst im Jänner erklärt, dass Frauen und Männer nicht völlig gleichberechtigt seien.