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Morpheus und seine Geheimnisse

Von Frank Ufen

Wissen
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Manchmal scheint es auf der Hand zu liegen, wovon ein Schlafender mutmaßlich träumt.
© corbis

Im Schlaf arbeitet das Gehirn und mit ihm vor allem das Immunsystem weiter.


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"Wiener Zeitung":Herr Professor, man weiß heute, dass das menschliche Gehirn rund um die Uhr Schwerstarbeit leisten muss und nachts so viel Energie verbraucht wie tagsüber. Was treibt das Gehirn, während wir schlafen und träumen?

Jan Born:Das stimmt nicht ganz. In den REM-Phasen ist das Gehirn zwar ein großer Energiefresser. Im Delta- oder Tiefschlaf hingegen geht sein Verbrauch zumindest zeitweise um mehr als 25 Prozent zurück, teilweise sogar bis zu 40 Prozent. Aber unter dem Strich stellt sich die Frage, ob das wirklich erklären kann, warum wir schlafen müssen.

Demnach hat die Evolution den Schlaf nicht in erster Linie erfunden, um den Energieverbrauch zu reduzieren?

Nein, wahrscheinlich nicht. Allerdings wird durch den Winterschlaf tatsächlich eine gewaltige Menge an Energie eingespart. Aber der hat mit dem gewöhnlichen Schlaf nicht viel zu tun.

Wenn wir schlafen und träumen, ist das Gehirn mit einer ganzen Reihe von Aufgaben wie physische Regeneration, Abbau von Stoffwechselprodukten oder Verdauung beschäftigt. Außerdem läuft das Immunsystem auf Hochtouren. Sie sind der Auffassung, dass das Immunsystem imstande ist, im Schlaf zu lernen?

Dass das Immunsystem lernt und über ein Gedächtnis für Krankheitserreger verfügt, ist lange bekannt: Das Immunsystem kann nur funktionieren, wenn es die Krankheitserreger sofort wiedererkennt, die ihm schon einmal zu schaffen gemacht haben, und wenn es weiß, wie es dann gegen sie vorgehen muss. Unsere Forschung zeigt, dass auch das Immunsystem den Schlaf nutzt, um ein solches Gedächtnis zu formen.

Ist es zu einer Erstinfektion gekommen, stürzen sich die Makrophagen und andere Abwehrzellen auf die Erreger, fressen sie auf und präsentieren Bruchstücke ihrer Mahlzeit den Lymphozyten. Die Lymphozyten teilen sich dann und bilden im Rahmen dieser Teilungsprozesse neben Zellen, die spezifische Antikörper gegen den Erreger herausbilden, auch Gedächtniszellen, die sich an den Erreger erinnern. Wenn der Erreger also wieder in den Körper eintritt, reagieren diese Gedächtniszellen sehr schnell und können seine Ausbreitung frühzeitig verhindern.

Das heißt, nach der Erstinfektion speichert das Immunsystem Wissen über den Erreger, damit es ihn bei einer erneuten Infektion noch schneller und effizienter bekämpfen kann. Eine Reihe von Indizien sprechen dafür, dass der Tiefschlaf für diese Art der Gedächtnisbildung im Immunsystem fundamental wichtig ist. Hierzu passt der aussagekräftige Befund eines Experiments. Versuchspersonen, die nach einer Impfung geschlafen hatten und dabei sehr viel Zeit im Tiefschlaf verbrachten, hatten noch ein Jahr später erheblich mehr Antikörper im Blut als die Mitglieder einer Kontrollgruppe, die nach der Impfung die ganze Nacht über wach geblieben waren.

Sie haben entdeckt, dass immer dann, wenn wir im Tiefschlaf sind, auch mit unseren im Gehirn gespeicherten Erlebnissen etwas Entscheidendes passiert: Teile der Informationen, die tagsüber im Zwischenspeicher des Hippocampus deponiert worden sind, werden ins Langzeitgedächtnis überführt.

Ja. Der Schlaf besteht aus zwei Kernphasen, dem Tiefschlaf und dem REM-Schlaf ("rapid eye movements", die in dieser Schlafphase auftreten). Der REM-Schlaf wird von vielen Laien mit dem Traumschlaf gleichgesetzt. Lange hat man geglaubt, dass wir im Traumschlaf Gedächtnisinhalte in den Langzeitspeicher überführen. Unsere Forschungen zeigen, dass der REM-Schlaf dafür weniger wichtig ist, vielmehr der Transferprozess vom Zwischenspeicher des Hippocampus in die als Langzeitspeicher fungierende Hirnrinde im Tiefschlaf stattfindet. Dabei wird auch nicht alle tagsüber aufgenommene Information in den Langzeitspeicher transferiert, sondern nur das, was wirklich wichtig ist.

Wie schafft es das Gehirn, diese Informationen zu sichten, zu bewerten, miteinander zu verknüpfen und zu archivieren, obwohl das Bewusstsein ausgeschaltet bleibt?

Von Archivieren spreche ich nicht so gern. Das Gehirn ist nämlich ganz auf die Alltagspraxis ausgerichtet. Es bereitet deswegen die Informationen bei der Einspeicherung in das Langzeitgedächtnis so auf und ordnet sie so an, dass man auf die für die Gegenwart und nächste Zukunft wahrscheinlich nützlichsten am leichtesten und schnellsten zugreifen kann.

Und Informationen, die längere Zeit nicht abgerufen worden sind, werden dann gewissermaßen in den Keller verfrachtet?

Ja, das ist ein gutes Bild. Doch was dann dort mit ihnen passiert, ob ein Teil von ihnen vermodert und zu Staub zerfällt oder nicht, wissen wir nicht.

Es scheint, dass das Gehirn im Schlafzustand alles Mögliche anstellt, um seine eigene Rechenleistung zu erhöhen - aufräumen, entrümpeln, kaum benutzte synaptische Verbindungen kappen. Aber Sie sind sich nicht sicher, ob das Gehirn überhaupt Daten löscht?

Tja, das Gehirn muss irgendwie verhindern, dass sich in ihm so gigantische Mengen an Daten und Datenschrott ansammeln, dass es aus allen Nähten platzt. Aber dass es in den Nachtstunden tatsächlich Daten vernichtet, ist bislang noch nicht nachgewiesen.

Sigmund Freud hat unterstellt, alles, was jemals gespeichert worden ist, bleibe für immer erhalten. Nur dass vieles davon nur noch schwer oder gar nicht mehr zugänglich ist.

Ja, da könnte Freud recht haben. Allerdings glaube ich, dass das Gehirn im Zwischenspeicher des Hippocampus immer wieder neu Platz schaffen muss. Denn dieselben Neuronen-Netzwerke, die für die Speicherung von Informationen verwendet werden, werden auch für die Informationsverarbeitung im Wachzustand eingesetzt .

Viele Menschen behaupten, nie oder fast nie zu träumen - was nicht stimmen kann. Es kommt auch oft vor, dass Menschen glauben, die ganze Nacht kein Auge zugedrückt zu haben - obwohl sie doch einige Stunden geschlafen haben. Wie lassen sich diese Irrtümer erklären?

Es ist eigentlich die Regel, dass Träume nicht erinnert werden. Der Traum, den wir nach dem Aufwachen meinen zu erinnern, ist eine Leistung des wachen Gehirns, das versucht sich an etwas zu erinnern, was zuvor während des Schlafs angeblich erlebt wurde. Ob es so erlebt wurde oder ob es sich bei dem erinnerten Traum nur an eine fehlerhafte Rekonstruktion eines vermeintlichen Erlebnisses handelt, wissen wir nicht. Aber aufgrund der Gehirnaktivität im REM-Schlaf können wir annehmen, dass da nicht viel erlebt wird und das Gehirn von dem, was da im REM-Schlaf passiert, auch nicht viel behalten kann.

Was kann man selbst tun, um regelmäßig lange und tief genug zu schlafen? Was halten Sie beispielsweise vom Powernapping?

Na ja, ein Nickerchen unmittelbar nach dem Mittagessen ist nicht schlecht fürs Lernen. Von dem Wissensstoff, den man sich morgens in der Schule einverleibt hat, bleibt dann eher etwas im Gedächtnis haften. Es gibt allerdings auch einen Nachteil: Die nächtliche Schlaftiefe leidet darunter. Den Schlaf können wir nicht direkt kontrollieren. Daher sollte man versuchen, ihm gegenüber ein gelassenes Verhältnis zu entwickeln. Das Einschlafen lässt sich eben nicht erzwingen. Und dass man nachts öfter aufwacht und sich dann leicht depressiv fühlt, ist nicht weiter tragisch. Schuld daran sind eine Reihe von Botenstoffen und Hormonen.

Sie haben gerade herausgefunden, dass man den Tiefschlaf durch bestimmte Schallreize künstlich verstärken kann. Könnten Sie uns mehr darüber erzählen?

Der Tiefschlaf ist durch langsame Wellen im EEG, das sind langsame Schwingungen im Hirnstromkurvenbild, charakterisiert. Man hat schon öfter versucht, diese schwingende Aktivität des Gehirns während der Tiefschlafphasen dadurch zu verstärken, dass man Töne in einem langsamen Rhythmus vorgibt, wie etwa, wenn man einem Säugling ein Wiegenlied vorspielt. Das Gehirn ist allerdings ziemlich eigenwillig und wehrt sich, wenn man ihm von außen einen bestimmten Arbeitsrhythmus aufzwingen will.

Wir sind deshalb anders vorgegangen. Wir haben unseren Probanden immer genau in dem Moment Töne vorgespielt, wenn wir solche langsamen und gleichmäßigen Wellenbewegungen im EEG entdeckt haben. Wir haben dabei unseren Probanden die Töne so vorgespielt, dass sie mit dem vom Gehirn selber vorgegebenen Arbeitsrhythmus synchronisiert waren. Das hatte den Effekt, dass sich die typischen Oszillationen verstärkten und sich die Dauer dieser Schwingungen verlängerte. Mit dieser relativ simplen Methode könnte es bald möglich sein, Schlafrhythmus und Schlafqualität wesentlich zu verbessern.

Zur Person
Jan Born, geboren 1958 in Celle, gilt als einer der bedeutendsten Schlaf- und Gedächtnisforscher Deutschlands. Er studierte in Tübingen Psychologie und lehrte unter anderem in Bamberg und Lübeck. 2010 erhielt er den Lehrstuhl für Medizinische Psychologie an der Universität Tübingen und für seine bahnbrechenden Arbeiten den Leibniz-Preis.