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Moshe Zuckermann

Von Katharina Schmidt

Reflexionen
Moshe Zuckermann: "Ich fühle mich nirgendwo heimatlich." Foto: Schmidt

Der israelische Philosoph Moshe Zuckermann über Vergangenheitsbewältigung in Österreich und Deutschland, über kollektives Gedächtnis - und warum es für ihn keine Heimat gibt.


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Wiener Zeitung:Sie haben in Wien an einem Symposium zum Thema "Politik mit dem Vergangenen" teilgenommen. Wie geht Österreich mit der Vergangenheit um?Moshe Zuckermann: In Österreich ist dieses Thema seit Mitte der 90er Jahre gründlich aufgearbeitet worden. Das Hauptproblem war, dass Österreich in der Nachkriegszeit der Meinung war, dass seine Vergangenheit überhaupt nicht in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen wäre. In dieser Ansicht wurde das Land von den Alliierten unterstützt, die viel dazu beigetragen haben, dass sich Österreich selbst als das erste Opfer Hitlers sehen durfte. Diese Ansicht ist zum ersten Mal durch die Waldheim-Affäre erschüttert worden, und dann gab es kein Halten mehr. Die Geschichtswissenschaft, die Sozialwissenschaft und die kritische Intelligenz haben sich intensiv mit dem Thema auseinander gesetzt.

Wie war im Vergleich dazu der Umgang mit der Vergangenheit in Deutschland?

Deutschland hat die dort sogenannte Vergangensbewältigung und Trauerarbeit sehr viel früher geleistet. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die deutsche Schuld eine ganz andere Dimension hat als die österreichische. Die Aufarbeitung in Deutschland geschah ja nicht, weil das Land oder die deutsche Politik so sehr darauf erpicht waren. Es war die 68er-Bewegung, die nicht so sehr den Holocaust, sondern die Frage des Hitler-Faschismus auf die politische Tagesordnung setzte. Deutschland hat seine jüngere Geschichte dann mit Hilfe der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, welche die Studentenrevolte beseelte, aufgearbeitet. Im Gegensatz übrigens zur DDR.

Woher kommt es dann, dass jetzt gerade in Ostdeutschland die Neonazi-Szene so stark ist?

Das hängt mit der Wiedervereinigung zusammen. Denn es stimmt eben nicht, dass man nur die beiden Teile vereinen müsse - und alles funktioniert; es ist noch immer eine zweigeteilte Gesellschaft. Ostdeutschland hat mehr Arbeitslose als Westdeutschland. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die Wirtschaft in der DDR eine marode gewesen ist. In der DDR sind ganze Lebenswelten zusammengebrochen, die Kapitalinvestition in Ostdeutschland verlief nicht so, wie erhofft. So entstand ein soziales Vakuum, und wir wissen, dass ein Vakuum vor allem von Rechtsextremen besetzt wird. Das gilt nicht nur für Ostdeutschland, das gilt auch für bestimmte Gebiete in Frankreich. Was in der ehemaligen DDR besonders auffällt, ist der Umstand, wie rasch das Erziehungssystem des Kommunismus zusammengebrochen ist und wie rasch dann eine Neonazi-Affinität entstehen konnte.

Wie hängen Erinnerung oder kollektives Gedächtnis mit Identität zusammen? Wie sinnvoll ist es, einen Erinnerungsbegriff zu schaffen, der zu einer kollektiven Identität führt?

Es ist evident, dass wir kollektive Wesen sind. Wir sind in eine Welt hineingeworfen, die von bestimmten kollektiven Strukturen bestimmt ist. Andererseits erweist sich das Kollektive als sehr heterogen. Wenn ich beispielsweise das Land Israel betrachte - das ist ein Einwanderungsland, da gibt es Unterschiede zwischen aschkenasischen und orientalischen Juden, zwischen ultra-religiösen, nationalreligiösen, reformreligiösen und säkularen Juden. Das, was sich als israelisches Kollektiv ausgibt, ist also im Grunde genommen zutiefst parzelliert, fragmentiert und zersplittert. Und nun erhebt sich die Frage, ob es nicht doch für alle in Israel lebenden Juden eine gemeinsame Erinnerung geben kann.

Man versucht, nationale Gründungsmythen herzustellen - für Israel ist so ein Mythos die Selbstbefreiung aus dem vom Antisemitismus geprägten Leben in der Diaspora. Aber Mythen sind nun einmal nicht die Wahrheit. Mythen versuchen etwas zusammenzufassen, was gar nicht so leicht zusammenzufassen ist. Am Beispiel Israels: Der Zionismus hatte die Shoah als eine Grundlage seiner Legitimation. Doch religiöse Menschen erinnern die Shoah anders als säkulare; orientalische Juden haben eine andere Erinnerung daran als die aschkenasischen Juden, die vom Holocaust betroffen waren. Sehr oft sind Erinnerung und Identität gar nicht miteinander zu vereinbaren, sehr oft kollidieren sie miteinander. Wie und was man erinnert, ist geschichtlich immer wieder transformierbar - das hängt nicht nur vom Standpunkt ab, sondern auch von der zeitlichen Entfernung von historischen Ereignissen.

Wie wirkt sich die Vereinnahmung der Shoah auf die Politik aus?

Das kann man sehr gut an einem Beispiel verdeutlichen: Orthodoxe Juden sehen die Shoah als die Bestrafung des jüdischen Volkes durch Gott für begangene Sünden. Anders können orthodoxe Menschen gar nicht mit der Shoah umgehen. Sonst müssten sie sich die Frage stellen, die man im Christentum als das Theodize-Problem kennt, nämlich: "Wo war Gott, als das Allerschlimmste passierte?" Die theologische Erklärung besagt, dass Gott das jüdische Volk bestraft hat, weil es den Weg der Aufklärung und auch jenen des Zionismus betreten hat. Für orthodoxe Juden darf ein Judenstaat erst dann errichtet werden, wenn der Messias gekommen ist. Und während der Zionismus behauptet, der Staat Israel sei aus der Shoah erwachsen, lautet das Argument der religiösen Juden eben: der Zionismus hat zur Shoah geführt.

Gibt es denn gar keine Verständigung zwischen religiösem und aufgeklärtem, säkularem Denken?

Es gibt nur eine auf der Grundlage von Toleranz. Mit einem religiösen Kollegen von der Universität in Tel Aviv kann ich mich über alles unterhalten, über Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Politik. Nur über eines nicht: über die Existenz Gottes. Für mich gibt es Gott nicht, für ihn muss es Gott geben. Und deshalb sparen wir in unseren Gesprächen dieses Thema aus.

Sie haben die Mohammed-Karikaturen scharf kritisiert. Wo liegt für Sie die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und religiöser Intoleranz?

Als realpolitisch denkender Mensch frage ich mich, ob diese Provokation unbedingt notwendig gewesen ist. Obwohl Religionskritik Teil meiner philosophisch-wissenschaftlichen Grundlage ist, bin ich dagegen, dass religiöse Menschen provoziert werden. Allerdings hatte die Reaktion der islamischen Welt mit den Mohammed-Karikaturen selbst wenig zu tun. Sie war getragen von dem Ressentiment, von den Hassgefühlen, mit denen Teile der islamischen Welt unserer Kultur gegenüber stehen. Diese Gefühle entspringen dem Drang nach einer postkolonialen Abrechnung mit dem Westen.

Verfolgt der Westen nicht ohnehin schon eine Appeasement-Politik gegenüber der islamischen Welt?

Das glaube ich nicht. Sind die Kriege im Irak und in Afghanistan wirklich eine Reaktion auf den islamistischen Terror oder nicht eher Folgen der amerikanischen Expansionspolitik?

Liegt Europa nicht dazwischen, zwischen den aggressiven USA und dem reaktionären Islam?

Hier zeigt sich wieder die Wirkmächtigkeit von Geschichte: Von Europa sind zwei Weltkriege ausgegangen. Der Antisemitismus ist nicht in der islamischen Welt, sondern in Europa entstanden. Genauso wie die Kolonialbewegungen. Ist Europa wirklich ein neutraler Kontinent, der sich zu Recht als Moralinstanz verstehen darf? Ist nicht gerade der in Europa entstandene Nationalismus der letzten 200 Jahre die Ursache für die größten Katastrophen der Moderne gewesen? Europa ist also kein Unschuldsengel. Europa hat einerseits die Grundlage für ein bestimmtes Wertesystem des Abendlandes geschaffen: große Kunst, große Musik, große Philosophie und große Zivilisation. Aber eben auch das Terrain für die größte Barbarei. Nicht im Islam sind die Juden zu Millionen verfolgt und vernichtet worden, sondern im christlichen Abendland. Die Aufklärung ist zwar in Europa entstanden, aber sie ist dort auch gescheitert.

Was bedeutet für Sie der Begriff Heimat?

Viele Menschen haben einen Heimatbegriff, doch ich habe keinen. Deutschland konnte nie meine Heimat werden: Ich bin der Sohn von Holocaust-Überlebenden, und Deutschland war das Täterland. Es war trotzdem sehr bestimmend für meine kulturelle und intellektuelle Entwicklung. Israel hätte meine Heimat werden sollen, aber so wie das Land im Zuge des ausartenden Zionismus geworden ist, konnte es nicht meine Heimat werden. Ich kann mich nicht mit Israel identifizieren, nicht mit einer Gesellschaft, welche die Expansionspolitik ihrer Regierungen Jahrzehnte lang gutheißt. Es ist ein Land, das ich liebe, es ist ein Land, in dem ich gerne lebe, aber heimatlich fühle ich mich dort nicht. Aber ich könnte mich eigentlich nirgendwo heimatlich fühlen. Es gibt im Moment nur eine utopische Heimat für mich: Ein Land, wo die Menschen endgültig befreit wären und nicht Krieg führen würden.

Ist der Heimatbegriff dann überhaupt sinnvoll?

Es gibt Menschen, die sich dort, wo sie leben, verwurzelt fühlen. Für mich aber sind die beiden Länder, in denen ich aufgewachsen bin, nicht zur Heimat geworden. Deutschland aus den gekannten Gründen nicht, und Israel ist meine große Desillusion geworden. Als ich 1970 nach zehnjährigem Aufenthalt Deutschland verlassen habe, setzte ich große zionistische Hoffnungen in Israel, doch die sind total enttäuscht worden. Ich bin aber kein Anti-Zionist. Ich bin ein Nicht-Zionist.

Moshe Zuckermann wurde 1949 als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren. Aufgewachsen ist Zuckermann in Tel Aviv, 1960 wanderte er mit seiner Familie nach Frankfurt aus. Dort studierte er u. a. bei dem Philosophen Theodor W. Adorno. Seit 1970 lebt Zuckermann mit seiner deutschen Frau wieder in Tel Aviv.

Der Soziologe, Historiker und Philosoph Zuckermann unterrichtet am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas an der Universität Tel Aviv. Von 2000 bis 2005 war er auch Leiter des Instituts für Deutsche Geschichte. Derzeit ist er Gastprofessor an der Universität in Luzern. Sein neuestes Buch ist in einem Wiener Verlag erschienen: "Israel - Deutschland - Israel. Reflexionen eines Heimatlosen" (Edition Passagen, 2006).