Nach dem überraschenden Rücktritt von Premier Medwedew braucht Russland neues Spitzenpersonal. Michail Mischustin übernimmt Amt des Premiers.
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Dass Russland stets für Überraschungen gut ist, wusste schon Winston Churchill. Das Land sei "ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium", urteilte der britische Staatsmann über die von außen schwer einsehbaren Vorgänge in der damaligen Sowjetunion. Auch nach deren Zerfall wurden selbst gewöhnlich gutinformierte "Kreml-Astrologen" immer wieder überrascht - etwa beim plötzlichen Rücktritt von Präsident Boris Jelzin am Silvesterabend 1999, der nach den turbulenten 1990er Jahren in Russland eine Epoche des Wiederaufstiegs und der Stabilität, aber auch der Stagnation und Repression einläutete.
Am Mittwoch gab es - knapp nach der jährlichen Rede von Präsident Wladimir Putin vor dem Parlament, in der dieser eine Verfassungsreform ankündigte, die dem Parlament mehr Macht geben sollte - nach langer Zeit wieder einen Knalleffekt: Putins langjähriger Weggefährte, Ministerpräsident Dmitri Medwedew, kündigte den Rücktritt der gesamten Regierung an. Er wolle Putin damit die Möglichkeit geben, die nötigen Veränderungen im Land anzustoßen, teilte Medwedew mit.
Grundproblem Armut
Der 54-Jährige dürfte zuletzt für Putin immer mehr zur Belastung geworden sein. Der vergleichsweise liberal eingestellte Medwedew ist spätestens nach seinen Korruptionsaffären, die der oberste Kremlkritiker Alexej Nawalny aufgedeckt hat, im Land ziemlich unbeliebt. Dass er 2024 noch einmal, wie schon zwischen 2008 und 2012, als Putin-Nachfolger im Kreml amtieren könnte, galt deshalb schon länger als extrem unwahrscheinlich. Im Jahr 2008 hatte die liberale Intelligenzija Moskaus und St. Petersburgs sich von Medwedew als Präsident noch Reformen erhofft. Nachdem sich dann aber doch Putin als der eigentlich Mächtige im Land herausgestellt hat, sind diese Hoffnungen rasch zerstoben - und mit den Korruptionsaffären der Ernüchterung gewichen.
Dazu kam die nicht gerade optimale Performance der Regierung Medwedew. Sie steht wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise im Land unter Druck: Die Reallöhne steigen kaum, die Pensionen sind niedrig, viele Menschen sind immer noch von Armut betroffen. Die nahende Parlamentswahl im Herbst 2021 könnten da für die unbeliebte Präsidentenpartei "Einiges Russland" durchaus zu einem Problem werden.
Dass das Armutsproblem in Russland nicht gelöst ist, musste auch Putin - ganz wie im Vorjahr - am Mittwoch vor den versammelten Abgeordneten und sonstigen Würdenträgern einräumen: Gleich zu Beginn seiner Rede ging er auf Russlands größte Probleme, den Geburtenschwund und die weit verbreitete Armut, ein. Und er kündigte ein Eingreifen des Staates an: Zusätzliche Zuschüsse sollten vor allem kinderreichen Familien helfen, über die Runden zu kommen.
Neuer Premier Mischustin
Neuer Premierminister soll mit Michail Mischustin der bisherige Leiter der russischen Steuerbehörde werden. Zuvor wurden der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, der bisherige Wirtschaftsminister Maxim Oreschkin und der amtierende Energieminister Alexander Nowak als mögliche Kandidaten genannt. Besonders Oreschkin gehört mit seinen 37 Jahren zu jener Garde junger Technokraten, die in den letzten Jahren von Putin gezielt gefördert wurden. Manche russische Politologen sind der Ansicht, dass Putin 2024 seinen Nachfolger im Präsidentenamt aus dieser Riege wählen wird.
Ob ein solcher Nachfolger aber Putins Machtfülle erlangen wird, ist fraglich. Denn Putin schlug in seiner Rede auch eine Volksabstimmung über ein Verfassungsreferendum vor. Dieses soll dem Parlament mehr Macht einräumen und das Amt des Premiers gegenüber dem des Präsidenten aufwerten. Im Augenblick ist die Macht des Ministerpräsidenten limitiert: Der Präsident kann seinen Regierungschef jederzeit entlassen, auch sind ihm wichtige Ministerien und die Nachrichtendienste direkt unterstellt. Außerdem kann der Staatschef jede Regierungsverordnung aufheben.
Nun soll künftig das Parlament entscheiden, wer Premierminister wird. Außerdem sollten Präsidenten in Zukunft nur noch zwei Amtszeiten lang regieren dürfen - eine Rückkehr in den Kreml, wie dies Putin 2012 gelang, wäre damit in Zukunft ausgeschlossen.
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Die geplanten Neuerungen lösten Spekulationen aus, dass Putin 2024 erneut als Premierminister weiter an der Macht bleiben könnte. Eine Diversifizierung der Macht ergibt für Putin aber auch dann Sinn, wenn er abtritt: Er wäre dann nicht so stark von der Gunst des Nachfolgers abhängig. Dessen Möglichkeiten, den streitbaren Ex-Präsidenten zu belangen, wären dann begrenzt.
Dass Putin selbst seine Weggefährten und Freunde nie ganz fallen lässt, wurde auch am Mittwoch im Fall Medwedews klar: Er soll nun stellvertretender Chef des nationalen Sicherheitsrates werden, der sich mit Verteidigungsfragen befasst. Der Chef? Putin selbst.