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Moskaus Problem mit der Sowjet-Hypothek

Von Gerhard Lechner

Analysen

Rhetorik von der "Brüderlichkeit" fällt in Kiew auf keinen fruchtbaren Boden.


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Da war es wieder, das Wort von der slawischen Brüderlichkeit. Dem Westen gefalle nicht, dass sich "unsere brüderlichen Völker" auf der Krim für einen Beitritt zu Russland entschieden hätten, erklärten die Abgeordneten der russischen Duma am Dienstag. Die Sanktionen von USA und EU seien "politische Hysterie".

In Kiew hört man solche Töne aus Moskau gar nicht gern. Das Lied von der slawischen "Brüderlichkeit" wird von vielen Ukrainern vor allem als Begleitmusik russischen Hegemonial- und Expansionsstrebens wahrgenommen, als Versuch des größeren Nachbarvolkes, sich erneut die Ukraine einzuverleiben. Für Russland aber ist die Ideologie von der Brüderlichkeit der ostslawischen Völker - also Ukrainer, Weißrussen und Russen- Teil der eigenen DNA. Als die UdSSR Anfang der 1990er Jahre am Ende war, hätte der russische Präsident Boris Jelzin die Neubegründung einer slawischen Föderation vorgesehen - stattdessen wurde mit der GUS, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, eine extrem lose Kooperation vereinbart. Es war der ukrainische Staatschef Leonid Krawtschuk, der sich querlegte und damit einer Neuauflage der Sowjetunion den Todesstoß gab.

Während für die baltischen, kaukasischen, zentralasiatischen und ostslawischen Nachbarstaaten Russlands mit dem Zusammenbruch der UdSSR eine postimperiale Periode nationaler Selbstfindung einsetzte, tat sich Russland als Erbe des Imperiums damit schwer. Der Absturz des Landes in den Neunziger Jahren, der Umstand, beim Westen, dem ehemaligen Feind, um Hilfen betteln zu müssen, wurde als schmachvoll und demütigend erlebt. Auch das Verhalten des Westens wirkte nicht gerade vertrauensbildend: Entgegen einem gegebenen Versprechen erweiterte sich das westliche Verteidigungsbündnis Nato um ganz Ostmitteleuropa bis vor die Tore St. Petersburgs. 1999 überging man russische Bedenken bei der Bombardierung Belgrads. Mit der völkerrechtswidrigen Irak-Invasion 2003, der vom Westen unterstützten Rosen-, Tulpen- und Orangen Revolution in Georgien, Kirgistan und der Ukraine hatte man sich in Moskau keine Freunde gemacht. Kooperierte Präsident Wladimir Putin während seiner ersten Amtszeit noch bereitwillig mit den USA, verschlechterte sich das Verhältnis danach rapide.

In Moskau geht man heute davon aus, dass Washington an dem ukrainischen "Regime-Change" mitgewirkt hat. Dementsprechend harsch sind die Reaktionen: "Russland ist das einzige Land der Welt, das realistisch betrachtet in der Lage ist, die USA in radioaktive Asche zu verwandeln", sagte der Journalist Dmitri Kiseljow - und pochte damit auch auf Russlands ebenbürtige Rolle als Großmacht. Moskau sieht sich vom Westen eingekreist, der Nato-Raketenschild wird als unmittelbare Gefährdung gewertet; zunehmende gesellschaftspolitische Konflikte mit dem Westen - wie etwa jener um die Gruppe Pussy Riot - tun ihr Übriges.

Vor diesem Hintergrund besinnt man sich in Russland auf "unsere 1000-jährige Geschichte". Zarenreich- und Sowjet-Nostalgiker treffen sich in der Vision eines starken, auf sich selbst gestellten Russlands - basierend auf der Orthodoxie, auf einer starken Armee und auf das traditionelle autoritäre Herrschaftssystem. Dieses Russland sollte als slawische Führungsmacht erneut eine wichtige Rolle spielen.

Moskaus Problem dabei: seine Sowjet-Hypothek. So haben die Stalin’schen Verbrechen, etwa der "Holodomor", die Hungersnot von 1932/33, tiefe Wunden bei den Ukrainern hinterlassen. Während sich Stalin in Russland heute gewisser Wertschätzung als Sieger im Zweiten Weltkrieg erfreut, gilt er in der Ukraine als Unperson. Der Wunsch, erneut unter russische Herrschaft zu geraten, ist in Kiew deshalb überschaubar.