USA planen Truppenaufstockung. | Abrücken von Präsident Karzai. | Kabul/Wien. Der Explosion folgte die Entwarnung - die afghanische Armee hatte in der Hauptstadt Kabul nur alte Munition gesprengt, wie üblich unangekündigt. Die Selbstmordanschläge blieben am Donnerstag also auf Südafghanistan beschränkt, wo zwei einheimische Soldaten ums Leben kamen. Trotzdem waren nach der blutigen Anschlagsserie vom Vortag in ganz Kabul schwerbewaffnete Soldaten zu sehen - empfangen wurde Richard Holbrooke, kürzlich von US-Präsident Barack Obama zum Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan ernannt.
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Die "New York Times" schrieb kürzlich über den neuen Gesandten: "Er hat eine so schwierige Aufgabe übernommen, dass schon das schiere Vermeiden der Katastrophe der einzige Triumph sein könnte." Holbrooke selbst klingt nur wenig zuversichtlicher: "Es gibt keine Zauberformel für Afghanistan", sagte er kürzlich bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Zu wenig militärische Schlagkraft und zu wenig zivile Hilfe seien die Gründe, dass die radikal-islamistischen Taliban an Boden gewännen.
Zumindest auf militärischem Gebiet plant die neue US-Regierung Verbesserung: Rund 30.000 zusätzliche Soldaten sollen an den Hindukusch geschickt werden. Der US-Kommandant für den Nahen und Mittleren Osten, General David Petraeus, ergänzte, dass auch mehr Unterstützungspersonal gebraucht werde: "Mehr Logistik, mehr Aufklärung, mehr Flugzeuge, mehr Informationseinheiten."
Vor allem Südafghanistan sei mit der derzeitigen Truppenstärke nicht unter Kontrolle zu halten, wie es in einem Anfang Februar vorgelegten Pentagon-Bericht heißt. Man ist gezwungen, einmal eroberte Gebiete rasch wieder aufzugeben. Ein Bericht des europäischen International Council on Security and Development sagt, dass 2008 die Präsenz der Taliban von 54 im Vorjahr auf 72 Prozent gestiegen ist.
Nur mit militärischen Mitteln den Wiederaufbau zu sichern, wie dies die bisherige Doktrin vorsah, wird freilich nicht genügen, weiß auch die neue US-Regierung. Verteidigungsminister Robert Gates, als Republikaner von der Vorgängerregierung übernommen, warnte davor, dass übertriebene militärische Präsenz die Antipathien in der Bevölkerung weiter schüren könnte: "Ich bin besorgt, dass die Afghanen uns immer mehr als Teil des Problems statt als Teil der Lösung betrachten."
Afghanistans Präsident Hamid Karzai warnt ständig vor dem schwindenen Rückhalt in der Bevölkerung, weil die Koalitionstruppen so viele Zivilisten töten. 2008 gab es 2100 Tote unter der Zivilbevölkerung. Ähnliche Klagen kommen aus Pakistan. In dessen Grenzgebiet, Rückzugsgebiet und Nährboden der Radikal-Islamisten, greifen US-Truppen immer wieder Aufständische an.
Geld und Waffen verschwunden
Wie das in Aussicht gestellte Plus an Hilfe für die Zivilbevölkerung aussehen soll, ist indes unklar. In der Vergangenheit führte die allgegenwärtige Korruption dazu, dass die zur Verfügung gestellten Mittel versickerten. Laut Schätzungen sind in Kabul weniger als die Hälfte der Hilfsgelder in reale Projekte geflossen, bis in die ländlichen Provinzen, wo 70 Prozent der Afghanen leben, hat es nur ein Viertel der vorgesehenen Mittel geschafft. Die internationale Kontrolle ist mangelhaft - übrigens auch bei den Waffen. Laut einem am Donnerstag vorgelegten Bericht des US-Kontrollamtes seien ein Drittel jener 242.000 leichten Waffen verschwunden, die die USA an die afghanischen Streitkräfte geliefert hätten.
Während der Report in diesem Fall der laxen Kontrolle der Amerikaner die Mitschuld gibt, ortet die neue US-Führung die Verantwortung für die Korruption bei der Regierung von Präsident Karzai. Obama selbst ließ seine Unzufriedenheit erkennen, als er in seiner ersten Pressekonferenz als Präsident meinte, Karzai habe den Kontakt zu seinem Volk verloren. Und Holbrooke soll schon im vergangenen Frühling über die Regierung in Kabul gesagt haben: "Sie ist schwach; sie ist korrupt; sie hat eine sehr dünne Führungsschicht; sie ist intern zerstritten; sie hat nie einen wichtigen Drogenbaron festgenommen." Auch die neue US-Außenministerin Hillary Clinton bezeichnete das Land bei der Kongress-Anhörung vor ihrem Amtsantritt als "Drogenstaat".
Afghanistan hat weltweit das Fast-Monopol auf den Anbau von Schlafmohn, aus dem Heroin gewonnen wird. Zum Teil finanzieren sich mit der Opiumproduktion die Taliban, aber auch lokale Drogenbarone und Stammesführer. Nicht zuletzt dient sie den Bauern als sichere Einnahmequelle. Wie man diese vom Mohnanbau abbringen kann, ist ein weiterer Streitpunkt zwischen den Afghanen und der internationalen Gemeinschaft.
Ein langer Krieg: Obamas Vietnam?
Damit scheint zunehmend ungewiss, ob die USA Karzai unterstützen werden, wenn er sich am 20. August um eine dritte Amtszeit bewirbt. Als Alternative hat der US-Nachrichtensender CNN kürzlich Ashraf Ghani, der unter Karzai bis 2004 Finanzminister war, ins Spiel gebracht - als "möglicherweise nächsten Präsidenten Afghanistans". Der frühere Weltbanker fordert für Afghanistan einen "Marshall-Plan", wie ihn die USA nach dem Zweiten Weltkrieg für Europa auflegten.
Karzais Amtszeit endet an sich schon am 22. Mai. 30 bis 60 Tage vorher müsste gewählt werden, die Wahlkommission verschob den Termin aber wegen Sicherheitsproblemen und finanziellen wie technischen Schwierigkeiten. "Die Entscheidung ist gegen die Verfassung und wird ein Machtvakuum schaffen", bemängelte indes ein Oppositionssprecher, der die Bildung einer Übergangsregierung forderte. Ein weiterer Unruheherd in dem daran nicht armen Land.
Gesandter Holbrooke sieht in Afghanistan einen langen Krieg bevorstehen. Das weckt in seiner Heimat unangenehme Erinnerungen: Das Magazin "News-week" zog einen umfangreichen Vergleich mit einem zurückliegenden US-Feldzug, der gleichfalls lange dauerte. Titel: "Obama´s Vietnam".