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Mr. Churchill? Mr. Bond?

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Europaarchiv

London hat die Wahl zwischen zwei Super-Egos - und zwei politischen Polen.


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London. Der eine hält sich schon für Winston Churchill. Der andere glaubt, er sei James Bond. Die Welt zu retten sehen sie beide als ihren Auftrag. Dabei sind sie bloß Kandidaten für ein Bürgermeisteramt, wenn auch für das eindruckvollste in Europa. Keine andere Stadt Europas kann sich an Größe und globaler Bedeutung mit London messen. Wer bei der Wahl am 3. Mai den Mayor-Posten erringt, kann zudem auf das umfassendste persönliche Mandat im Land verweisen. Und es wird wohl entweder Ken Livingstone oder Boris Johnson sein.

Die Londoner schütteln die Köpfe bei dieser Aussicht. Genau diese beiden Kandidaten von Labour und Tories standen schon 2008 zur Wahl, und sogar der Kandidat der Liberaldemokraten - der glücklose Ex-Polizeichef Brian Paddick - ist derselbe wie damals. Einige Wähler finden das eine Zumutung und erwägen, aus Protest parteilosen Kandidaten wie der unabhängigen Siobhan Benita ihre Stimme zu geben. Viele sind der "alten Parteien" und der abgenutzten Parolen müde.

Aber am Ende haben frische Gesichter im Kampf der Titanen wenig Chancen. Die Super-Egos haben das Feld für sich. Boris und Ken sind schließlich die einzigen britischen Politiker, bei denen es landesweit keines Nachnamens bedarf, um sie zu identifizieren. Sie stehen nicht nur für ihre jeweiligen Lager, sondern haben eigenes Profil und einen unbestrittenen Unterhaltungswert.

Hier, in der Tory-blauen Ecke, tritt also wieder der Witzbold und blonde Wuschelschopf aus Eton an. Dort, in der roten, das scharfzüngige Faktotum der Süd-Londoner Working Class. Der Clown und Charmeur der herrschenden Schichten gegen den näselnden Eigenbrötler der Linken. Exzentrisch beide. Eigenwillig und arrogant. Immer ein wenig abdriftend vom Hauptstrom ihrer Parteien.

Sympathie verbindet sie keine. Sie sehen sich als scharfe Gegenpole der britischen Politik. Das war schon so, bevor Boris Ken vor vier Jahren aus dem Amt vertrieb. Die Wahl zwischen ihm und Johnson, witzelte Livingstone einmal, sei quasi eine Wahl zwischen Gut und Böse. "Seit Winston Churchill sich das Dritte Reich vorknöpfte", habe es keine so klaren Verhältnisse gegeben. Johnson konterte, ihm komme sein Duell mit Livingstone vor wie das James Bonds mit dem auf Weltherrschaft versessenen Bösewicht Blofeld.

Die Früchte von "Red" Ken

Auf die Sache mit der Weltherrschaft kam Johnson nicht ganz zufällig. Schon Margaret Thatcher beschuldigte Livingstone in den 1980ern, er wolle Britannien "eine Tyrannei osteuropäischer Art" bescheren. Damals leistete der heute 66-jährige Labour-Politiker als junger Vorsitzender des Gemeinderats für Groß-London (GLC) der "Eisernen Lady" bitteren kommunalpolitischen Widerstand. Zur Strafe wurde der GLC 1986 abgeschafft. 14 Jahre später, als London 2000 dank Tony Blair erstmals in der Geschichte einen direkt gewählten Bürgermeister erhielt, musste Livingstone sich den Posten als unabhängiger Kandidat erkämpfen. Blairs New-Labour-Riege wollte keinen Außenseiter, keinen widerborstigen Linken an dieser wichtigen Stelle.

Dabei erwies sich "Red" Ken, erst einmal im Amt, als bemerkenswert konziliant. Er wusste zum Beispiel seine verkehrspolitischen Reformen mit einer bemerkenswert freundlichen Behandlung des mächtigen Londoner Finanzbezirks zu verbinden. Und bei seiner Wiederwahl 2004 war er wieder offizieller Labour-Kandidat. 2008 verlor er dann jedoch knapp gegen Johnson. Diesem kam die wachsende Anti-Labour-Stimmung zugute. Blair hatte gehen müssen, Gordon Brown war bereits unbeliebt. Boris repräsentierte die "neuen", wählerfreundlichen Konservativen. Er war ein Original. Er brachte die Leute zum Lachen. Und er gewann die Außenbezirke, die bürgerlichen Vorstädte, für sich: die Teile Londons, die nicht an Mautzonen und billigen Bus-Tickets in der Innenstadt, sondern an freier Fahrt für ihre Autos interessiert waren.

Knapper Wahlausgang

Nach seinem Sieg fielen Johnson die Früchte mehrerer Livingstone-Projekte in den Schoß. Sein Vorgänger hatte Mautzone, elektronische Tickets und Schülerfreifahrt eingeführt sowie das Bahn- und Busnetz verbessert. Und er hatte ein städtisches Leihrad-System vorbereitet, das später unter dem schönen Namen "Boris Bikes" umgesetzt wurde, sowie Olympia 2012 an Land gezogen.

"Boris", meint Tony Travers, Stadtexperte der London School of Economics, "kam mit unwahrscheinlichem Glück in die Situation, dass er Dinge einweihen und Bänder durchschneiden konnte." Es half ihm darüber hinweg, dass er mit wenig Vorstellungen von großstädtischer Politik ins Amt gekommen war. Anders als Livingstone, dessen ganzes Leben London bestimmte, hatte Johnson im Grunde wenig Interesse an der Stadt. Der neue Job war für ihn eher eine Etappe auf dem Weg nach oben - zur Spitze seiner konservativen Partei.

Die Nöte der weniger begüterten Londoner blendete er oft aus. Von 10 Prozent Arbeitslosenrate wollte er nichts hören. "Die Jobs sind ja da", sagte der vielfache Millionär. Man müsse sich nur Mühe geben und sie finden. Auch um 50 Prozent gestiegene Ticketpreise für den öffentlichen Verkehr sieht der Tory-Bürgermeister, der einmal die 250.000 Pfund Jahresgage für seine wöchentliche Kolumne im "Daily Telegraph" als "lausiges Hühnerfutter" bezeichnet hat, nicht als Problem.

Doch mit seiner jovialen Art nimmt der 46-Jährige noch immer viele für sich ein. Dagegen finden selbst Labour-Sympathisanten Livingstone verkniffen oder ungehobelt. Zumal er sich gelegentlich selbst ein Bein stellt mit fragwürdigen persönlichen Steuer-Arrangements oder leichtfertigen Bemerkungen, die ihm als antisemitisch ausgelegt werden können. Und viel an Vision für London kommt auch bei Livingstone nicht herüber. Sollte er es wider Erwarten noch einmal schaffen, wäre das eine beachtliche Leistung. Knapp wird es laut Umfragen auf jeden Fall. Am Ende, spekuliert Travers, könne der Wahlausgang an ein paar tausend oder gar ein paar hundert Stimmen hängen.