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Mujeeb ur Rahman

Von Veronika Eschbacher

Reflexionen

Mujeeb ur Rahman, Mullah in Herat in Afghanistan, über die Folgen des Krieges für sein Land, das Verhältnis zu den Taliban - und über Selbst- und Fremdtötungen aus Sicht des Islam.


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"Wiener Zeitung": Was sind Ihre Pläne für Afghanistan? Sie werden in dem Land als aufstrebende Persönlichkeit bezeichnet.

Der sunnitische Prediger während des Gesprächs in Kabul.
© Foto: Veronika Eschbacher

Mujeeb ur Rahman: Wir haben seit mehr als 30 Jahren Krieg in Afghanistan. Wenn sie einen 40-jährigen Mann hier fragen, so kennt dieser nichts als das Geräusch des Krieges. Wenn in einer Gesellschaft das Kämpfen an die Stelle der Bildung tritt, schafft dies Probleme. Dazu kommt, dass in Afghanistan eine ehrliche Person fehlt, die mit Leidenschaft Gutes für Afghanistan erreichen will. Wir sind ein sehr rohstoffreiches Land, wir haben riesige Vorkommen an verschiedensten Mineralien und viele mutige Menschen. Wenn Frieden herrschen würde, könnten wir alle diese Schätze heben und nutzen. Daran aber wiederum sind unsere Nachbarn nicht interessiert: Ein friedvolles Afghanistan wäre ihnen zu machtvoll, das wollen sie nicht.

Sie sagen, dass Afghanistan keinen richtigen Führer hat. Sehen Sie jemanden, der sich dazu entwickeln könnte - oder würden Sie selbst bereit sein, diese Rolle zu übernehmen?(Der Dolmetscher erklärt mir, dass ich mehr über mich erzählen soll, denn der Mullah wäre sehr vorsichtig mit den Antworten. Er sagt: "Was, wenn sie eine Spionin ist?")

Grundsätzlich gab es immer wieder ehrliche Menschen, die gute Führer hätten sein können, aber die Macht hat sie schnell verdorben. Die Art, über die sie in die Politik kamen, könnte auch ich heute problemlos nutzen, um in eine Position mit Macht zu gelangen. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Ich will eines Tages die armen Afghanen aus ihren Problemen herausführen und mich für das Gute im Land einsetzen. Was ich nicht will, ist über Gewalt, Geld oder Betrug an die Macht kommen. Ich will die Herzen der Menschen erreichen.

Viele Muslime haben ihre Religion verloren. Sie haben das Gute, das dem Koran innewohnt, vergessen. Heute wird in jeder Ecke der Welt der Islam missbraucht. Ich will die Wahrheit der Religion aufzeigen, so dass sich die ganze Welt in diese Religion verliebt.

Wie schätzen sie sich selbst ein? Konservativ oder moderat?

Der Koran wurde von einer höheren Macht übermittelt. Der Name dieser höheren Macht ist auch "Hakim", das bedeutet so viel wie "Doktor". Der Koran ist ähnlich wie das Rezept eines Arztes. Wir müssen dieses Rezept zu den Menschen bringen, die rauben, die foltern. Wenn diese friedvolle Annäherung nicht gelingt und sie die Nachricht nicht akzeptieren wollen, dann müssen wir Gewalt anwenden.

Werden wir doch konkreter: Sind Selbstmordanschläge unislamisch?(Nunmehr will er vor der Antwort wissen, welcher Religion ich angehöre. Er freut sich, dass ich Christin bin und betont, dass sich der Islam und das Christentum sehr ähnlich sind).

Afghanistan hat rund 30 Millionen Einwohner. Aber nur etwa 40 Menschen sorgen dafür, dass es keinen Frieden gibt. Diese Menschen haben Macht und Reichtum. Die normalen Menschen im Land sind arm und hungrig. Die mit Macht wiederum nutzen diese Schwäche aus und geben den Armen Geld, um einander zu bekämpfen. Man sollte diesen egoistischen und selbstherrlichen Machthabern die Macht entziehen.

Noch einmal die Frage: Sind Selbstmordanschläge unislamisch oder nicht?

Unser Prophet sagte, dass der Platz der Person, die Selbstmord begeht - sei es durch eine Kugel, durch Aufhängen oder Selbstverbrennung -, in der Hölle ist.

Sie haben letztes Jahr ein Konzert in Herat verboten, das erinnert an die radikal-islamischen Taliban. Wie passt das mit Ihren eher moderaten Antworten zusammen?

Momentan erlaubt die Sicherheitslage in Afghanistan keine Menschenansammlungen - an jeder Ecke lauern Selbstmordattentäter. Auch in Herat schlugen sie schon zu und viele starben. Zudem war damals gerade Ramadan-Ende, die Afghanen hatten ein Monat gefastet und gebetet. Für eine Stunde Vergnügen riskieren sie lange und tiefe Trauer, sollte etwas geschehen. Mein einziger Wunsch war, die Stimmung der Bevölkerung zu hören. Die meisten wollten nicht, dass das Konzert stattfindet. Und ich bevorzugte die herrschende Meinung.

Was ist denn wichtiger: die herrschende Meinung - oder was im Koran steht?

Unser Land ist ein muslimisches Land. Was immer der Koran sagt, das werden die Menschen akzeptieren, sie werden sich nicht dagegen wenden. Der Koran akzeptiert keine Menge, in der sich Frauen und Männer mischen. Wenn nun zusätzlich Musik gespielt wird, kann dies Leidenschaft zwischen den beiden Geschlechtern hervorrufen. Wenn der Koran also dies nicht billigt, müssen wir es stoppen - und die Menschen haben es akzeptiert, sogar die Regierungsvertreter.

Wie sieht Afghanistan in Ihrer Vision aus? Beinhaltet es demokratische Institutionen?

Wenn wir Afghanen der Welt einen Gefallen hätten tun wollen und es uns entsprochen hätte, die von ihnen gewünschten Regeln zu übernehmen, dann hätten wir dies schon vor langer Zeit getan. Die Chancen dafür waren am größten, als die Russen in Afghanistan waren. Zu dieser Zeit wurden die Afghanen von vielen, auch eigenen Leuten, in die Irre geführt. Wir akzeptieren aber die Regeln, die aus dem Koran kommen. Und wenn sie nicht aus dem Koran sind, dann nicht. Was Demokratie betrifft, lassen Sie mich etwas erzählen: Zur Zeit Omar Farooqs trat eine Frau vor den Kalifen, den mächtigsten Mann und Geschäftetreiber zu dieser Zeit. Sie sprach ihn an und beschwerte sich, dass er ihr nicht zuhöre. Er aber hörte ihr friedlich zu, ohne aggressiv zu werden. Das ist ein Beispiel, dass sich Demokratie auch im Koran finden lässt.

Werden Sie mit Ihren Ansichten von den Taliban akzeptiert?

Ich hänge weder von der Regierung, noch von den Taliban ab. Ich habe nie eine Waffe genommen und Schulter an Schulter mit ihnen gekämpft. Ich konzentriere mich auf die Herzen der Menschen in Afghanistan, und auf die Herzen aller Muslime.

Gut, anders gefragt: Erreichen Sie die Herzen der Taliban?

Man kann nicht sagen, dass die Taliban grundsätzlich schlecht sind. Auch sie berufen sich auf den Islam als Antrieb für ihr Tun. Aber ich weiß nicht, wer hinter ihnen steckt, wer das veranlasst, dass sie die Religion falsch verstehen, Selbstmorde begehen, andere töten und Zerstörung anrichten. Sie selbst glauben, dass sie richtig handeln. Wenn wir in Zukunft mit ihnen in Kontakt kommen sollten, dann sind sie Talibs, also Schüler, und wir sind Mullahs, und sie sollten somit unter unserer Hand sein.

Sie haben eingangs erwähnt, dass die Afghanen durch den Krieg vor allem der Bildung beraubt wurden. Was tun Sie für mehr Bildung?

In manchen Provinzen konnten wir schon die Bevölkerung überreden, dass Schüler in Madrassas einen anderen Unterricht erhalten und nun auch in anderen Gegenständen als Religion unterrichtet werden, etwa in Englisch oder Informatik. Es war viel Überzeugungsarbeit notwendig, aber der Unterricht läuft bereits.

Was ist Ihre Meinung zu den amerikanischen Truppen: Sollen sie nach 2014 im Land bleiben und die Afghanen unterstützen - oder nicht?

Als die NATO und die Amerikaner kamen, wurden wir nicht gefragt, also haben wir auch jetzt keine Meinung dazu.

Nehmen wir an, Sie wären der Führer von Afghanistan. Was wäre Ihre erste Amtshandlung?

Ich will eine Situation schaffen, in der eine Frau problemlos auf einem Motorrad von Herat nach Kabul reisen kann. Sollte aber jemand der Frau etwas antun, dann sollte er gehängt werden. Genauso wie einem Dieb die Hand abgeschlagen werden sollte. Wer auch immer den Frieden der Gesellschaft stört und wir ihn nicht durch Verhandlungen und Zureden überreden können, davon abzulassen, den sollten wir töten, bis die Gesellschaft friedvoll ist. Die Todesstrafe gibt es auch in anderen Ländern, nicht nur in islamischen, etwa in China.

Da ich nicht mehr so viel Zeit habe, möchte ich Sie nun fragen, ob Sie gemeinsam mit uns in das Paradies eingehen möchten?

Das ist ein freundliches Angebot. Aber lassen Sie mir dafür bitte noch ein wenig Zeit . . .

Es ist immer gut, das Paradies im Kopf zu behalten, denn viele Menschen verlieren Zeit, vielleicht sterben sie, und ihre Seele ist verloren . . .

Wer sind Ihre Unterstützer?

Mein Glück ist, dass mich verschiedenste Stammesälteste in Afghanistan mögen. Die Menschen, die mir folgen und mit denen ich lebe, stammen aus allen ethnischen Gruppen. Auch wenn ein schiitisches Kind Kopfweh hat, bringt man es mir und ich segne es, genauso wie ich es mit einem sunnitischen tue . . .

In diesem Moment aber, und Gott weiß das, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass diese Schwester (deutet auf mich, Anm.) zum Islam konvertiert, so dass auch sie fröhlich wird und ins Paradies eingehen kann.

Oha. Sehen Sie sich selbst eigentlich als Revolutionär?

Ja, als Revolutionär des Geistes.

Werden Sie an Wahlen in Afghanistan teilnehmen?

Es ist nicht nötig, dass ich an Wahlen teilnehme. Vier oder fünf Personen, die im Parlament sind, auch Frauen, sind auf meine Referenz dort hingekommen; weitere drei oder vier in Provinzräten.

Sollen Frauen Burka tragen?

Frauen sind wie Diamanten. Ein Diamant ist etwas Wertvolles. Es macht keinen Unterschied, ob eine Frau ein Kopftuch trägt, einen Tschador oder Niqab - Hauptsache, sie ist bedeckt, wenn Fremde anwesend sind. Wie sie sich bedeckt, ist ihre eigene Wahl.

Waren Sie je Zeuge von Gewalt unter Menschen?

Als ich etwa vier Jahre alt war, gab es in Herat noch kaum Autos. Ich war mit meinen Eltern also in einer Pferdekutsche unterwegs. Der Kutscher schlug das Pferd mit einer Peitsche, daraufhin nahm ich sie ihm weg und weinte, bis wir in der Stadt waren. Ich bin gegen jegliche Art von Gewalt.

. . . abgesehen von dem Hände abhacken?

Ja, weil eine Hand Hunderte von Menschen trifft.

Haben Sie vor etwas Angst?

(Zeigt langsam mit einer Hand nach oben) Allah.

Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> Mujeeb ur Rahman, geboren 1984 in Afghanistan, ist der bekannteste Mullah von Herat, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Westen Afghanistans. Wie er selbst angibt, hat er mit zehn Jahren begonnen, den Koran auswendig zu lernen. Mit 13 Jahren war er damit fertig, mit 19 begann er, in der Khwaja Abdullah Ansari-Moschee in Herat zu predigen. Mit 22 heiratete er - und hat drei Kinder. Im Jänner 2013 verließ er Afghanistan für einen sechsjährigen Studienaufenthalt in Saudi Arabien. Videos des sunnitischen Predigers werden nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Saudi Arabien, Tadschikistan und Großbritannien gezeigt. Progressive Afghanen bezeichnen ihn als Extremisten.