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Mülldeponie als Spielplatz

Von Michael Biach

Reflexionen

Auf der einen Seite trägt Kosice den Titel "Europäische Kulturhauptstadt", auf der anderen beherbergt es die Roma-Siedlung "Lunik IX", wo einzig ein Kindergarten ein wenig Hoffnung in all das Slum-Elend bringt.


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Lange stand Kosice, die zweitgrößte Stadt der Slowakei, im Schatten des Regierungssitzes Bratislava. Dabei hat die Metropole im Osten des Landes kulturell und geschichtlich einiges zu bieten. Kein Wunder also, dass sich Kosice in diesem Jahre mit dem französischen Marseille den wohlverdienten Titel "Europäische Kulturhauptstadt" teilt.

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Nur wenige Kinder haben die Chance, der Trostlosigkeit zu entkommen.
© Foto: Biach

Wer jedoch den historischen Kern mit Kathedrale, Stadttheater und Fußgängerzone verlässt und an den Stadtrand nach Lunik IX fährt, der kommt schnell in eine gänzlich andere Welt, in deren Trostlosigkeit wie so oft Kinder die Leidtragenden sind. Einst war Lunik IX - benannt nach einer sowjetischen Mondsonde - wie alle anderen Satellitenstädte der ostslowakischen Stadt als günstiger Wohnraum für die Mittelschicht des Realsozialismus in den 1980er Jahren gedacht. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Gründung des Nationalstaates Slowakei hatten die neuen Stadtvertreter aber andere Pläne.

Zwangsumsiedelung

In einer Nacht-und-Nebelaktion wurden tausende Roma, die bis zu diesem Zeitpunkt über die gesamte Altstadt verbreitet gewohnt hatten, mit Bussen in den attraktiven, jedoch noch mäßig bewohnten Neubau verbracht. Darüber waren weder die ursprünglichen Bewohner noch die zwangsumgesiedelten Roma glücklich. Die einstige slowakische Mittelschicht suchte sich daraufhin anderswo Wohnungen - und verschwand rasch.

Die neuen Mieter wiederum konnten sich in den riesigen Plattenbauten nicht zurechtfinden. Zu untypisch war dieses Wohnmodell für die Roma, die es immer schon bevorzugten, nahe am Boden zu leben. Eine Bleibe in den obersten Stockwerken kam für sie nicht in Frage. Waren die Roma, wie alle erwachsenen Bürger der Tschechoslowakei, während der kommunistischen Ära noch verpflichtet zu arbeiten, so änderte sich in den 1990er Jahren die Situation für sie drastisch. Jobs gab es kaum mehr, die Arbeitslosigkeit stieg rapide.

Schon bald konnten die Bewohner ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Gleichgültigkeit über ihren gesellschaftlichen Stellenwert sowie die Beschleunigung der bereits bestehenden Isolation und Ausgrenzung gegenüber den gadje - ein Ausdruck aus dem Romanes, der alle Nicht-Roma bezeichnet - bescherten ihnen einen tristen Alltag in den heruntergekommenen Plattenbauten am Rande der Stadt. Diebstahl und Kriminalität nahmen überhand. Die sozialistische Vorzeigesiedlung entwickelte sich zum urbanen Slum-Albtraum. Nach der Privatisierung von Strom- und Wasserversorgung wollten die neuen Eigentümer Geld sehen. Als die Zahlungen weiterhin ausblieben, wurde zuerst der Strom, später auch das fließende Wasser von der Stadtverwaltung abgedreht.

Trinkwasser wird heute nur für zwei Stunden täglich, unter Polizeibeobachtung, ausgegeben. Die ergatterten Rationen tragen Frauen und Kinder in aufgefüllten Wasserkanistern in ihre Bleibe. Seitdem die Müllentsorgung zusammengebrochen ist, entledigen sich die Bewohner von Lunik IX sämtlicher ihrer Abfälle durch das Fenster. Innerhalb kürzester Zeit sammelten sich Tonnen an Müll vor den Fenstern der Wohnhäuser, welche Krankheiten und eine nicht zu bewältigende Rattenplage nach sich zogen.

Alle Jahre lässt die Verwaltung den riesigen Abfallberg vor den Wohnhäusern entsorgen, spätestens dann, wenn wieder einmal das Grundwasser der Stadt in Gefahr ist. Zwischendurch dient die Mülldeponie den Kindern als "Spielplatz", wird nach Brauchbarem durchsucht oder als Zeitvertreib angezündet. Zwischen Bergen aus Plastik, gebrauchten Babywindeln und kaputten Gebrauchsgegenständen streunen zahlreiche Hunde auf der Suche nach Nahrung. Die hungrigen Ratten wagen sich, vor allem während des langen kalten Winters, bis in die Wohnungen vor. Kleinkinder mit Rattenbissen sind keine Seltenheit, Krankheiten aller Art die Regel.

Der Mangel an Strom brachte Kälte und Isolation. In selbstgebauten Öfen verheizen die Bewohner Müll und Holz aus dem nahegelegenen Wald, was immer wieder zu Bränden führt. Das Schlimmste jedoch sei das mangelnde Selbstwertgefühl der Roma, sagt Tomas Halasz. Er ist Fotograf und hat an der Kampagne "Syndróm Róm" mitgearbeitet, die initiiert wurde, um dem aktuellen Klischeebild der Roma entgegenzuwirken. Syndróm Róm zeigt auf, dass Roma erfolgreiche und selbstbewusste Slowaken sein können - und dass es in der slowakischen Gesellschaft durchaus nennenswerte Beispiele persönlicher Erfolgsgeschichten gibt.

Doch Syndróm Róm porträtiert nicht einfach prominente Romavertreter des Landes. Vielmehr möchte die Kampagne alltägliche Menschen darstellen, wie etwa die zweifache Mutter Ida Biháriová , die 30 Jahre lang in der Nationalbank tätig war und ihre Arbeit erst nach der Erkrankung mit Schildrüsenkrebs beenden musste. Oder Mária Demeová, eine junge Studienabsolventin, die Englisch an einer Grundschule unterrichtet, leidenschaftlich gerne reist und auch als Journalistin erfolgreich ist. Oder Ivan Mirga, ein ehemaliger Leutnant der Armee, der mittlerweile an einer Katholischen Universität lehrt.

Es ist ein großer Mythos, dass alle Roma in Wellblechhütten am Land oder in urbanen Slums hausen. Vielmehr besteht auch die nach der ungarisch-stämmigen Bevölkerungsgruppe zweitgrößte ethnische Minderheit des Landes aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Syndróm Róm prangert dieses verzerrte Bild in der Gesellschaft an und will dazu beitragen, die Wahrnehmung der Minderheit zu verbessern, auch unter den Roma selbst.

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Abfälle werden in der Siedlung Lunik IX grundsätzlich durch die Fenster entsorgt . . .
© Foto: Biach

In Lunik IX sind solche Botschaften freilich noch nicht angekommen. In der heruntergekommenen Siedlung leben die ärmsten und orientierungslosesten Roma des Landes. Immer wieder wird in ausländischen Medien auf ihre prekäre Situation aufmerksam gemacht, werden Übergriffe extrem rechter Gruppen oder gewöhnlicher Nachbarn im Dorf gemeldet, ist von der Bildung sogenannter Roma-Garden die Rede oder wird die Unfähigkeit von Politikern, der Lage Herr zu werden, angeprangert. An der Situation der Roma hat das bisher aber kaum etwas verändert.

Doch inmitten von Armut und Hoffnungslosigkeit gibt es in Lunik IX eine kostbare Kleinoase des Glücks. Anna Klepácová leitet den Ende der 1990er Jahre gegründeten staatlichen Kindergarten von Lunik IX, den alle fünf- bis sechsjährigen Kinder sowie deren jüngere Geschwister kostenfrei besuchen können. Insgesamt mehr als 120 Kinder werden täglich in Kleingruppen durch den Tag geführt. "Das Wichtigste für die Kinder ist, dass sie einen Ort der Geborgenheit vorfinden und die Möglichkeit haben, einfach Kind zu sein", sagt Anna Klepácová.

Betritt man den - durch einen Eisenzaun und mehrere Stahltüren von der Siedlung abgeschotteten - Kindergarten, vergisst man schon nach kurzer Zeit die Zustände in der Plattenbausiedlung. Geräusche von spielenden und lachenden Kindern, raschelndem Papier, Kreidestiften und Holzspielzeug werden nur durch gelegentliche erzieherische Anweisungen der Pädagoginnen unterbrochen. Dabei lernen die Kinder vor allem Slowakisch, denn obwohl die Roma Slowaken sind, sprechen sie hauptsächlich ihre Muttersprache Romanes. Im spielerischen Umgang lernen die Kinder auch, ihre kreative Seite zu entdecken. Bilder und Zeichnungen der Kinder von Lunik IX wurden bereits mehrfach ausgezeichnet und in etlichen Galerien ausgestellt.

Angriffe auf Lehrer

Für einige Frauen von Lunik IX bietet der Kindergarten auch die Möglichkeit einer geregelten und anspruchsvollen Arbeit als Köchin, Haushälterin oder Bürohilfe. "Ein geregelter Tagesablauf sowie Toleranz und Harmonie im Umgang miteinander - all das muss Kindern schon vor dem Schuleintritt vermittelt werden", sagt Klepácová. Tatsächlich wird der Kindergarten unter den Einwohnern positiv wahrgenommen. Viele Eltern sind dankbar, dass ihre Kinder hier und nicht auf den Müllbergen der Siedlung spielen können.

Doch es scheint, als ob die Roma von Lunik IX ihrem Schicksal nur schwer entfliehen können. In der nahegelegenen Grundschule ist die Situation weniger harmonisch. Die meisten Schüler schwänzen regelmäßig den Unterricht, Angriffe auf das Lehrpersonal gehören zum Alltag. Lehrer und Schüler fühlen sich fehl am Platz. Anstatt in die Schule zu gehen, verbringen die Kinder ihren Alltag erneut auf den Straßen und Müllbergen von Lunik IX. "Ich wünsche mir, dass zumindest einigen der Kinder die Flucht aus dem Elend gelingt", sagt Anna Klepácová hoffnungsvoll. So ganz glaubt sie aber selbst nicht daran, denn "als Roma habe man es in der Slowakei schon schwer genug. Wer jedoch aus Lunik IX kommt, hat kaum Chancen auf ein besseres Leben".

Michael Biach, geboren 1979, lebt in Wien und arbeitet als freier Journalist und Fotograf. Er befasst sich mit kulturellen und sozialen Aspekten der Gesellschaft. (Seine Bilder über "Die Kinder von Lunik IX" werden beim Fotofestival The Browse im Juni in Berlin ausgestellt.) www.michaelbiach.com