Adorno-Schüler Oskar Negt über die Krise, Ängste und das Wiederaufkeimen von faschistischem Potenzial.
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"Wiener Zeitung": Populismus, Demokratiekrise, Unbehagen, ja Wut im Parteienstaat. Was läuft eigentlich schief in westlichen Demokratien?
Oskar Negt: Naja, das ist natürlich eine große Frage. Lassen Sie mich eine Antwort versuchen: Es gibt natürlich nicht einzelne, isolierte Krisenherde, sondern wir haben es mit einem ganz üblen Krankheitsfall zu tun und sehen das Multiorganversagen des Systems Kapitalismus. Am sichtbarsten sind die Verlustängste der Menschen. Die Rechtspopulisten nähren diese Verlust- und Abstiegsängste: Die sogenannten Fremden wollen den Etablierten das bisschen streitig machen, das sie haben. Seltsamerweise wird die Figur des "Fremden" besonders in jenen Regionen als bedrohlich empfunden, wo es kaum solche "Fremde" gibt. In Mecklenburg-Vorpommern ist das beispielsweise der Fall. Dennoch ist dort die rechtspopulistische AfD besonders erfolgreich. Das Tückische: Dieser Angstrohstoff pflanzt sich fort. Und irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass den herrschenden Eliten diese Angstprojektion auf die "Anderen", auf das "Fremde" gar nicht so unrecht ist. Auf diese Weise wird der "Feind" benannt, es werden Gefahren projiziert, die es so gar nicht gibt. Das Systemversagen, all die Ungerechtigkeiten und all die soziale Ungleichheit, rückt dadurch in den Hintergrund. Eine konkrete Bedrohung - auch wenn sie nur eine projizierte Bedrohung ist - erscheint vielen eben realer als eine diffuse, nicht greifbare Bedrohung durch die Unzulänglichkeiten unseres Systems. Da kursiert dann die Auffassung, dass die Massen derjenigen, die nicht haben, sich etwas aneignen wollen. Dieses Besitzstreben wird meiner Auffassung nach auf die Fremden projiziert.
Es heißt immer: Krisen sind Chancen - Chancen auf Veränderungen, Chancen auf Weiterentwicklung. Warum ist das dieses mal nicht der Fall?
Krisenzeiten sind nur dann Erkenntniszeiten, wenn es erkennbare Alternativen gibt. Wenn aber die Alternativen nicht sichtbar sind, dann mutiert dieses Krisenbewusstsein in eine Art Depression. Lassen Sie mich aber klarstellen: Es gibt Alternativen. Es gibt genügend Intellektuelle, die auf scharfsinnige Weise die Verhältnisse analysieren. Und mittlerweile sind die tieferen Ursachen der Unzufriedenheit, des Unbehagens und der Wut vieler Bürgerinnen und Bürger, die sich vielfach in der Unterstützung destruktiver Rechtspopulisten ausdrückt, bekannt. Der real existierende Kapitalismus bringt ein immer größeres Heer von Überflüssigen hervor. Immer mehr Menschen werden durch eine immer rasantere Automatisierung aus dem Arbeitsprozess gedrängt. Die Mittelschicht erodiert, in Deutschland besitzt eine Minderheit von nicht einmal 10 Prozent die Hälfte des gesellschaftlichen Reichtums. Dazu kommt ein Gefühl der Ohnmacht jener, die sich immer mehr als Verlierer der aktuellen technologischen und ökonomischen Entwicklung sehen.
Woher kommt diese Ohnmacht?
Diese Ohnmacht ist ja nicht nur ein Gefühl, viele Menschen stehen den Entwicklungen ja tatsächlich ohnmächtig gegenüber. Was dieses Ohnmachtsgefühl aber verstärkt: Das Proletariat als kämpferische, starke, geschlossene Gruppe, die um ihre Rechte kämpft, gibt es nicht mehr. Und das Kleinbürgertum verliert ebenfalls die letzten Reste bourgeoiser Repräsentanz. Es gibt somit kein gemeinsames Eintreten für die eigenen Interessen.
Manchmal beschleicht einen das Gefühl, dass wir es in der heutigen Zeit mit einer Art kollektiver manisch-depressiver Störung zu tun haben. Ein Beispiel: Vor acht Jahren standen Barack Obama und Mitt Romney zur Wahl. Obama - ein Ausnahmepolitiker, aber auch der damalige republikanische Kandidat Mitt Romney wirkt im Vergleich zu Donald Trump, der in diesem Jahr der Kandidat der Republikaner ist, wie ein Heiliger. Wie kommt es zu solchen kollektiven Stimmungsschwankungen?
Es ist erstens nicht ausgeschlossen, dass ganze Gesellschaften einem kollektiven Wahn erliegen. Gerade wir Deutschen haben genau das in den 1930er Jahren erlebt. Aber eines ist schon bemerkenswert: das geringe Maß an Wirksamkeit der Vernunft.
Bevor es nun zu depressiv wird, frage ich Sie nach möglichen Auswegen und Lösungen.
Gut so. Eine triviale aber die dennoch wohl treffendste Antwort lautet Bildung. Bildung - vor allem auch politische Bildung - muss auf allen Ebenen intensiviert werden. Politische Urteilskraft der Bürger ist das wesentlichste Element jeglicher Krisenlösung. Da bedarf es auch einer Veränderung des Schulsystems. Ein weiteres Problem ist die Autoritätsfixierung in unseren Gesellschaften. Die Angst vor den Mächtigen spielt in Ländern wie Deutschland und Österreich eine wichtige Rolle. Diese Angst führt dazu, dass die Menschen zulassen, dass nach unten getreten wird, dass sie zulassen, dass man die Flüchtlinge gleichsam zu den Alleinschuldigen für die knappen Kassen des Sozialstaates macht. Wenn es aber darum geht, zu hinterfragen, ob die Reichen und Superreichen in Deutschland ihren fairen Anteil bezahlen, dann gibt es plötzlich eine Beißhemmung. Denn nun würde es ja nicht gegen die Schwachen in unserer Gesellschaft, sondern gegen die Starken und Mächtigen gehen.
Das Bildungssystem leistet aber noch einen weiteren sehr unglücklichen Beitrag: Es fördert die Individualisierungstendenzen in unserer Gesellschaft. Was dazu führt, dass das autonome "Ich" immer mehr in den Vordergrund bei der Betrachtung der Zustände gerückt ist. Das führt aber wiederum dazu, dass der Blick auf das System verschwimmt. Und es kommt noch etwas dazu: Scheitern in unserem System wird so stets zu einer persönlichen Niederlage. Die Frage, die sich die Menschen stellen, lautet dann immer: "Was habe ich falsch gemacht? Was hat der andere richtig gemacht?" Dass aber die Systemvoraussetzungen vielleicht so waren, dass der eine gewisse Vorteile und der andere gewisse Nachteile hatte, zu dieser Überlegung kommt es gar nicht erst. Dass eine falsche Politik es war, die das Lebensglück einer Person zerstört hat, und weniger, dass er oder sie sich persönlich zu wenig angestrengt hat, kommt den Betroffenen erst gar nicht in den Sinn. Denn man macht seit vielen Jahrzehnten den Fehler, dass man auf Personen, auf Individuen und nicht auf Strukturen guckt. Obwohl man meist sogar bei oberflächlicher Betrachtung zum Schluss kommen muss, dass die Systemanalyse viel eher brauchbare Antworten liefert, als wenn man sich mit individuellen Fragen auseinandersetzt. So kommt es zu einer Verhinderung der praxisrelevanten Systemkritik.
Wenn Sie recht haben und das kapitalistische System in der Krise steckt, warum kann die Linke von dieser Kapitalismus-Krise nicht profitieren?
Weil die Sozialdemokratie zu lange als Kollaborateur mitgemacht hat. Die deutsche Sozialdemokratie droht doch vor allem deshalb unter die 22-Prozent-Marke abzurutschen, weil sie im Schlepptau der CDU/CSU segelt. Ich kann nur hoffen, dass die Genossen nun endlich bereit sind, die Machtverhältnisse im parlamentarischen Raum anders zu sehen als bisher.
Halten Sie zukünftige Allianzen der SPD mit Linken und Grünen für möglich?
Ich bin selbst Sozialdemokrat und ich glaube, dass die SPD dabei ist, sich auf eine Koalition links der Mitte - also gemeinsam mit der Linken und den Grünen - einzustellen. Dazu muss die SPD einfach die Herkunftsbeziehungen dieser Gruppierungen anerkennen: Bei der Linken gibt es viele Marxisten. Was ist das Problem? In der Zeit von Rosa Luxemburg waren die Trennlinien zwischen SPD und der Kommunistischen Partei Deutschlands noch nicht so klar. Die Werte der Grünen: Umwelt, Menschenrechte - das sind doch alles Dinge, bei denen die Sozialdemokratie gut mitkann.
Inwieweit ist die Krise der Sozialdemokratie mitverantwortlich für den Aufschwung der Populisten?
Dass die Sozialdemokratie den Alleinvertretungsanspruch für die Deklassierten aufgegeben hat, hat sicherlich zu dieser Entwicklung beigetragen. Die kleinen Leute fühlen sich von der SPD verlassen. Die Wahl der Rechtspopulisten ist für sie so etwas wie ein Aufschrei. Das Gefährliche: Durch den Aufstieg der AfD ist zum ersten Mal in Deutschland ein faschistisches Potenzial entstanden. Dieser neue Faschismus nutzt demokratische Mittel - wie etwa freie Wahlen -, um sich zu etablieren. Für die Antidemokraten ist die Demokratie nur ein nützliches Vehikel auf dem Weg zur Macht.
Oskar Negt
hat bei Theodor W. Adorno über Positivismus und Dialektik promoviert und war Assistent von Jürgen Habermas. Eben ist beim Steidl Verlag eine 8624 Seiten umfassende Werksausgabe und die Autobiografie "Überlebensglück", die Negt in Wien zu schreiben begonnen hat, erschienen. Negt war auf Einladung der Volkshilfe in Wien.