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Am vergangenen Wochenende fand in der Wiener Kunsthalle die alljährliche "Literatur im März" statt. Dort trat u. a. Gert Jonke auf, der aus seinem Buch "Redner rund um die Uhr" vorlas, das gerade im Verlag Jung und Jung erschienen ist. Genauer gesagt: Jonke las nicht. Er brüllte, säuselte, knirschte und zischte mit rauer Stimme seine Sätze, die davon handeln, dass sich der Mund eines Menschen selbstständig macht und redet, was er will, obwohl sein Besitzer ihn dafür ständig beschimpft. Jonke ist also einer der Autoren, die ihre Auftritte wie Musiker inszenieren. Sie lesen ihre Texte nicht brav herunter, sondern verwenden sie als Vorlage für einen Auftritt. Keine Frage, dass eine solche Performance interessanter ist als die biedere "Dichterlesung" alten Stils.
Am Montagabend war Jonkes poetische Prosa in der Sendung "Texte - Neue Literatur aus Österreich" (Ö1) noch einmal zu hören. Dieses Mal las nicht der Autor selbst, sondern Michael Wäger. Gewiss las der Schauspieler mit der ausgebildeten Stimme kunstvoller als der Autor, seine Töne waren feiner, seine Pointen überlegter platziert. Dagegen war nichts einzuwenden. Und doch hatte diese respektable Kunstleistung keine Chance gegen Jonkes eruptiven Auftritt am vergangenen Freitag. Das lag zum einen daran, dass Live-Shows naturgemäß interessanter sind als Radiosendungen. Zum anderen aber siegte hier die raue gegen die glatte Stimme, das Unmelodische gegen den Wohllaut, das Authentische gegen das Routinierte - oder anders gesagt: Im Vergleich zwischen Autor und Schauspieler trug der Mund den Sieg über den Lautsprecher davon.