Die ukrainische Armee braucht Granaten. Sie will, dass europäische Rüstungskonzerne auf Kriegswirtschaft umstellen.
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Wer dieser Tage Politiker ist, ist häufig auch Waffenexperte. Sogar die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, Teil der einst friedensbewegten Grünen, ist jetzt mit stählernen Kampfkolossen auf Du und Du. Sie spricht von "Leos" und meint damit Leopard-2-Panzer, ihr ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba hat ein fast intimes Verhältnis zu F-16-Jets aufgebaut, wie er im Februar in München vor Journalisten einräumte: Welche Ersatzteile, welchen Sprit braucht so ein Gerät, wo und wie kann es repariert werden, was muss ein Soldat können, um es zu bedienen, und wie lange dauert die Ausbildung dafür? Das beschäftigt die Politik in diesen Tagen. Das, so die allgemeine Meinung, ist im Endeffekt entscheidend.
Kämpfen bis zum Ende
Denn unmittelbar vor der Haustüre der EU herrscht Krieg und abseits einiger versprengter Friedensinitiativen ist für die Entscheidungsträger völlig klar, dass dieser Kampf bis zum Ende - aus Sicht des Westens bis zu einer Niederlage Russlands - geführt werden wird.
Wer schießt, braucht Munition, am Mittwoch kamen die Verteidigungsminister aller 27 EU-Staaten in Schweden zusammen, um über sehr reale Befürchtungen zu reden, dass die Ukraine bald nicht mehr über genug Artilleriegranaten verfügen könnte. Man suche nach einer Lösung, wie Europa in die Lage versetzt werden könne, die notwendige Produktion voranzutreiben, sagte Österreichs Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, die als Vertreterin eines neutralen Landes nach Stockholm gereist war. Dabei gehe es nicht nur um die Ukraine, sondern auch um die Deckung des EU-Eigenbedarfs.
Die Ausgangslage ist keine besonders gute. Der estnische Außenminister Urmas Reinsalu hat bereits im Februar errechnet, dass Russland an einem Tag so viele Granaten verschießt, wie sie in der EU in einem Monat produziert werden. Und die Forderungen, die Kiew stellt, sind enorm. Die Ukraine brauche nicht weniger als eine Million Artilleriegeschoße und dafür müssten rund vier Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden, so Verteidigungsminister Olexij Resnikow. Immerhin gehe es darum, weitere Offensiven gegen die Angreifer starten zu können und Russland in letzter Konsequenz auch von der Krim zu vertreiben. Wobei die Ukraine mit einem Bedarf von 100.000 Geschoßen pro Monat rechnet.
In der EU scheitert es zunächst gar nicht am Geld, sondern an den fehlenden Produktionskapazitäten. Man habe nach dem Kollaps des Kommunismus schlicht nicht damit gerechnet, in eine derartige Lage zu kommen, so Baerbock in München, das sei einfach außerhalb jeder Vorstellung gewesen. Erleichtert über das vermeintliche Ende des Wettrüstens, wurden Panzer eingemottet und in den Waffenschmieden die Stopptaste gedrückt. Auch ging man davon aus, dass künftig kleine, mobile, flexible militärische Einheiten für punktuelle Auslandseinsätze benötigt würden. Auf einen materialfressenden Abnützungskrieg, wie er 1914 bis 1918 stattgefunden hat, ist jetzt niemand vorbereitet.
Produktion wird gesteigert
Immerhin: Auch der russische Angreifer sieht sich mit massiven Problemen konfrontiert. Hier wurde man von dem aktuellen Krieg zwar weit weniger überrascht. Aufgrund westlicher Sanktionen ist es für Moskau aber schwierig, die Munitions- und Waffenproduktion hochzufahren und die sich beständig leerenden Arsenale zu füllen. Der Chef der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, der offen mit der regulären Armee konkurriert, beklagt lautstark den Mangel an Munition und hat bereits mit der Einstellung der Kämpfe gedroht.
Dass der Krieg endet, weil beiden Seiten die Munition ausgeht, ist - leider - nicht wahrscheinlich. Vielmehr wird nach Möglichkeiten gesucht, Waffen überall auf der Welt zuzukaufen. Der Westen sieht sich um, auch in Ländern des sogenannten globalen Südens.
Derzeit arbeitet die EU überdies an einem Projekt, in dem Waffen und Munition gemeinsam eingekauft werden sollen. Zudem soll lieferwilligen Mitgliedstaaten ein deutlich höherer Anteil der Kosten aus EU-Mitteln erstattet werden. Auf der anderen Seite geht es darum, die eigene Produktion rasch zu steigern. EU-Industriekommissar Thierry Breton hatte bereits im Vorfeld des Verteidigungsministerrates von den Rüstungsunternehmen in der EU gefordert, in den "Modus der Kriegswirtschaft" zu wechseln.
Der Chef des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall, Armin Papperger, ist dieser Tage jedenfalls ein gefragter Mann. In seinem Betrieb hat man alle Hände voll zu tun; so wurde entschieden, dass man wieder in die Produktion von Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard einsteigen wird. Eine neue Munitionsfabrik entsteht in Niedersachsen, die Fertigung soll im Juni beginnen. Mehr als 20 Milliarden Euro will Deutschland in den kommenden Jahren für Munition ausgeben, darunter auch weit reichende Raketen. Außerdem laufen Verhandlungen über den Bau einer Panzerfabrik durch Rheinmetall auf ukrainischem Boden. Jährlich könnten dort 400 Panzer produziert werden.
Im Drei-Schichten-Betrieb
Der weitaus größte Teil an Waffen, die die Ukraine aus dem Ausland bezieht, stammt freilich aus den USA. Dort schlägt der Krieg, den Russland angezettelt hat, voll durch. US-Gerät und Hilfe im Wert von 50 Milliarden Dollar sollen im vergangenen Jahr in die Ukraine verschickt worden sein. Produktionsanlagen für Munition und Waffen, etwa in Scranton, Pennsylvania, werden mit vielen Millionen Dollar, die direkt aus dem Pentagon kommen, ausgebaut. Zusätzliche Arbeitskräfte heuern an und es laufen Überlegungen, in drei Schichten, 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche, zu produzieren.
Ändern wird sich das so schnell nicht: Die USA stünden hinter der Ukraine und würden sie auch in Zukunft umfangreich mit Waffen beliefern, hat Präsident Joe Biden bei seinem jüngsten, spektakulär inszenierten Besuch in Kiew deutlich gemacht.