Die Gefahr der Einkreisung.
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Das anspruchsvolle Buch des deutschen Professors für Politikwissenschaftlers Herfried Münkler über den Ersten Weltkrieg macht derzeit auf dem Büchermarkt Furore. Das ist leicht erklärt. Es stellt vieles in den Schatten, was in allen möglichen Varianten bislang und auch heuer über dieses essenzielle Thema geschrieben, gesagt und gemutmaßt worden ist. Es ist ein monumentales Werk mit großer thematischer Spann- und Reichweite, inhaltlich analytischer Tiefen- und Trennschärfe, sprachgewaltig, weitblickend, weltumspannend.
Münkler nimmt eine historische Neueinschätzung der "Urkatastrophe" des vorigen Jahrhunderts vor. Wie übrigens auch der Cambridge-Professor Christopher Clark, dessen Buch zum gleichen Thema Schlagzeilen machte, ist er der Meinung, dass die Schuld am Ausbruch dieses Krieges nicht monokausal zu erklären ist.
In der deutschen Geschichtswissenschaft galt seit Jahrzehnten die These, dass die Weltmachtambitionen des Deutschen Reiches der Hauptgrund für den Kriegsausbruch gewesen sei. Diese These ist nicht mehr länger haltbar. Die politische und moralische Verantwortung trugen nach dem heutigen Stand der Geschichtsforschung alle am Krieg beteiligten Großmächte, also auch die Habsburgermonarchie, das Zarenreich, Frankreich und Großbritannien.
Die zweite These Münkers, dass die Spannungen zwischen diesen Großmächten nicht notwendigerweise mit militärischer Gewalt hätten gelöst werden müssen, dass man gewissermaßen in den Krieg hineingeschlittert sei, ist nicht wirklich zwingend. Es fehlte allerorten an politischer Urteilskraft und Weitblick. Es gab militärische Fehleinschätzungen und Schlampereien, sogar Zufälle, die eine Rolle spielten. Gewiss. Aber die machtpolitischen Erwägungen in den diversen Staatskanzleien, der bedeutende Einfluss der Kriegstreibercliquen, die Automatik der Bündnissysteme, die Deutschlandphobie in Frankreich und Großbritannien, der Panslawismus, die Kriegsbereitschaft der Massen und andere Faktoren gaben dann doch den entscheidenden Ausschlag für den Weg in das Desaster.
Frappierende Parallele
Das Kriegsgeschehen selbst stellt Münkler mit umfassendem Blick auf die globale Dimension des Krieges detailreich auf den verschiedenen Schauplätzen in allen seinen Facetten dar und schließt auch die operativen Strategien der Heeresleitungen und die Auswirkungen der Kriegswirtschaft auf alle zivilen Lebensbereiche in seine kritischen Betrachtungen mit ein.
Im Abschlusskapitel erörtert der Autor die Folgenwirkungen des Großen Krieges. Sie reichen bis in unsere Zeit. An der Peripherie der zerfallenen multiethnischen Großreiche, der Habsburgermonarchie, des Zaren- und des Osmanischen Reiches, entstanden vom Balkan bis zum Kaukasus und der Ukraine, einschließlich des Nahen Osten und Nordafrikas, postimperiale Nationalstaaten, die mit ihren ungelösten Problemen als Krisenherde noch immer oder schon wieder die Weltpolitik beschäftigen. Sie ökonomisch und politisch zu stabilisieren, gehört unter anderem zu den vordringlichsten Aufgaben der Europäischen Union. Der Bundesrepublik Deutschland als stärkste europäische Wirtschaftsmacht fällt in ihrer geopolitischen Lage dabei eine besondere Rolle zu.
In Ostasien trägt die Last dieser geopolitischen Mitte die Chinesische Volksrepublik, die durch die Globalisierung der Wirtschaft in eine "geostrategisch unkomfortable" Situation geraten ist. Das "Reich der Mitte" ist in Gefahr, eingekreist zu werden. Wie das wilhelminische Deutschland im vorigen Jahrhundert. Eine frappierende Parallele, die Herfried Münkler da aufzeigt. Er denkt eben in weltpolitischen Zusammenhängen. Das zeichnet ihn aus.
Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Rowohlt, 924 Seiten, 30,80 Euro
WZ-Interview mit Herfried Münkler