Beide Lager gehen auf die Straße - Machtkampf in Kairo spitzt sich zu.
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Kairo. Stürzt Ägypten tatsächlich "in einen dunklen Tunnel mit verheerenden Konsequenzen"? Ein Sprecher der Armee in Kairo skizzierte am Wochenende mit diesen Worten das Zukunftsszenario des Landes für den Fall, dass es zwischen den verfeindeten Lagern - den Islamisten um Präsident Mohammed Mursi und den gegen ihn demonstrierenden säkularen Oppositionellen - zu keinem echten Dialog kommt. Dann drohe nämlich eine Katastrophe. "Und das ist etwas, was wir nicht zulassen werden."
Die Stellungnahme des Armeesprechers war deutlich - über das, was die Armee nicht zulassen würde, war aber nichts Eindeutiges zu erfahren. Greift das Militär aufseiten des Präsidenten in den Konflikt ein? Oder war die Mitteilung im Gegenteil eine Warnung an Mursi, den Kompromiss mit seinen Opponenten zu suchen? Droht gar ein Putsch der Armee, eine Rückkehr der Generäle, die seit den 1950er Jahren geherrscht hatten, an die Macht?
Es sind entscheidende Tage in Ägypten, und Präsident Mursi scheint zumindest kein schmeichelweicher Polit-Taktiker zu sein. Der Kandidat der Muslimbruderschaft, der es mit knapper Mehrheit ins Präsidentenamt schaffte, verfolgt seine politischen Ziele mit Hartnäckigkeit und ohne große Bereitschaft zum Kompromiss. Am Samstag schon soll ein Referendum über die neue ägyptische Verfassung stattfinden - Mursis säkular orientierte Gegner laufen dagegen Sturm, sehen das Land auf dem Weg in einen islamischen Gottesstaat. Die Verfassungsversammlung, die den Entwurf ausgearbeitet hat, haben sie verlassen - wegen der angeblichen Kompromisslosigkeit der islamistischen Majorität aus Muslimbrüdern und Salafisten, die am Ende die mehr als 200 Artikel der Verfassung im Rekordtempo durchgewunken hat. Mursi persönlich hatte die Versammlung vor dem Zugriff der ägyptischen Justiz geschützt.
Die Sondervollmachten, die seine Entscheidungen über die Justiz stellten, hat Ägyptens Präsident inzwischen wieder abgegeben. Seine Gegner, die am Verfassungsentwurf Anstoß nehmen, hat das aber keineswegs besänftigt: Am Dienstag soll es neue Massendemonstrationen gegen das geplante Referendum geben. Der Entwurf gebe "nicht den Willen des Volkes wieder", sagte ein Sprecher des größten Oppositionsbündnisses, der säkularen Nationalen Heilsfront. Dem Bündnis gehören Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei und der ehemalige Chef der Arabischen Liga, Amr Moussa, an. Auch die Jugend-Revolutionsbewegung des 6. April kündigte an, die Proteste so lange fortzusetzen, bis die Abstimmung abgesagt oder wenigstens verschoben wird. Tatsächlich profitieren die Islamisten in Ägypten, das zu einem Drittel aus Analphabeten besteht, von Mursis raschem Tempo: Sie können ihre Anhänger schneller mobilisieren.
Auch Mursi mobilisiert
Der Präsident mobilisiert unterdessen seine eigene Gefolgschaft: Unter dem Motto "Ja zur Legitimität und zum nationalen Konsens" werden auch die Muslimbrüder am Dienstag protestieren. Der ehemals vom Militär unter Ex-Präsident Hosni Mubarak verfolgte und internierte Mursi setzt aber auch auf die Streitkräfte: Vor dem umstrittenen Referendum hat Mursi der Armee Polizeiaufgaben übertragen und die Rechte des Militärs gestärkt. Einem neuen Erlass zufolge, der auch sofort in Kraft getreten ist, dürfen Armeesoldaten nunmehr Zivilisten festnehmen.
Auch aufgrund solcher Maßnahmen des Präsidenten ist es eher unwahrscheinlich, dass sich die Armeeführung gegen den neuen islamistischen Präsidenten wendet. "Das ägyptische Militär sorgt sich vor allem um seine Autonomie, um seine starke Stellung", gibt der Ägypten-Experte Stephan Roll von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik zu bedenken. Der Ökonom weist darauf hin, dass sich Mursis Muslimbrüder und die Armeeführung schon lange arrangiert hätten. Im August, als man Mursi noch für einen schwachen Präsidenten hätte halten können, hatte der die Armeeführung ohne viel Federlesens ausgetauscht. Damit hatte auch ein Generationswechsel stattgefunden.
Rechte des Militärs gesichert
"Jetzt ist eine jüngere Garde an der Spitze", sagt Roll der "Wiener Zeitung". Dass das Militär an die Macht zurückwill, glaubt er nicht: "Der Armee geht es um ihr Wirtschaftsimperium, um die Hoheit über den Verteidigungshaushalt, um Personalfragen und die Militärjustiz - und all diese Sonderrechte sind in dem Entwurf, der zur Abstimmung steht, gewahrt. Dazu gehört auch, dass Generäle nicht vor zivilen Prozessen zur Rechenschaft gezogen werden können - ein wichtiger Punkt vor dem Hintergrund der Vorwürfe gegen führende Militärs der Mubarak-Zeit seitens der jugendlichen Aktivisten. Eine aktive Rolle in Ägyptens Politik wünscht sich die Armee aber nicht."
Ebenso unklar ist, ob der neue Verfassungsentwurf wirklich einen islamischen Gottesstaat am Nil festschreibt. Der zumindest im Ausland viel diskutierte Artikel zwei - er spricht von der Scharia, dem islamischen Recht, als "Hauptquelle der Gesetzgebung" - war schließlich bereits unter Mubarak in Kraft. Der Artikel, ein Entgegenkommen Mubaraks an die Islamisten, wurde bloß wortident bestätigt - auch die Opposition hatte dazu Zustimmung signalisiert. Der Hauptdissens in Fragen der Religion beschränkt sich daher auf die stärkere Stellung der Religionsgelehrten im neuen Entwurf.