Das Absterben, das Artensterben wird vielfach und vielerorts vehement beklagt. Das Absterben von Sprachen wird als unermesslicher Verlust gesehen. Gutmeinende setzen sich für die Bewahrung ein.
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Leben ist Bewegung, ist Entwicklung. Hätte sich alles erhalten, was ursprünglich war, gäbe es keinen Ursprung, weil dieser nur im Kontrast zum Gewordenen, dank Entwicklung, lesbar ist. Es wäre eine unmögliche Statik. So ist die Welt im Kosmos nicht geworden. Dass sie wurde, was sie ist und wie sie uns erscheint, geschah nur in Veränderung, Aufkommen und Niedergang, Leben und Tod.
Das lässt sich für die Natur feststellen, aber auch für die Menschen, für ihre Kulturen und Sprachen. Haben Sprachen einen Eigenwert? Oder sind sie primär Mittel, Werkzeuge zur Kommunikation, die sich mit der Gesellschaft verändern? Wenn eine Sprache stirbt, weil keine Sprachgemeinschaft sie am Leben erhält, ist das zu bedauern? Wenn eine Sprachgemeinschaft über längere Dauer eine andere Sprache annahm und aktiv pflegte und weiterentwickelte, taugt diese weniger? Wem geht es ab, dass wir nicht mehr Alt- oder Mittelhochdeutsch reden?
Der überzogene Wunsch nach Dauer hat etwas Kindisches. Die Widersprüchlichkeit ist auch aufgeklärtem Denken nicht fremd. Einerseits Leben, Dynamik, Entwicklung, andererseits Bewahren, Belassen, Stetigkeit. Fausts Wunsch nach Verlängerung des Augenblicks, die Sehnsucht nach dem zeitlosen, ewigen Paradies. Doch das ist geträumt, jenseitig, unweltlich.
Gerade in der sich beschleunigenden Globalisierung wachsen Ängste. Mit ihnen Trugbilder ehemaliger Ganzheit oder Einheitlichkeit der "guten alten Zeit", der bewahrten authentischen Ordnung, des überschaubaren Verstehens. Aber nie hatte der Mensch das Paradies, nie konnte er das Ganze haben oder erkennen. Es waren und sind immer Sehnsüchte, Wünsche, Fantasien - Hilfen zur Minderung des Realitätsdrucks.
Auch ohne menschliches Zutun hat die Natur Arten ausgesiebt. Für wen sollten also Sprachen, die kaum einer spricht, erhalten werden? Sie zu erfassen und archivieren mag ja angehen. Aber sie künstlich erhalten, wäre so untauglich und verlogen wie die Pseudopflege von Brauchtum. Entweder wird ein Brauch gepflegt, weil er Brauch ist, also Übung, oder er ist historisch, museal.
Man sagt, mit Sprachen gingen Kulturen verloren, spezifische Wahrnehmungsweisen der Welt. Schon. Aber der Kulturwandel ist ganz normal. Das Gegenteil wäre eine (beängstigende) Anomalie.
Mich erinnert das an Bemühungen, "bedrohte Völker" zu konservieren, sie in Quarantäne zu halten, damit sie bleiben können, was sie sind. Was, wenn Angehörige solcher Völker, da sie nun einmal mit der Außenwelt in Kontakt kamen, sich verändern wollen? Soll ihnen das verboten werden im Namen ihrer Authentizität? Welch eine freche Anmaßung! Was würden wir Mitteleuropäer sagen, wenn man uns die gegenwärtigen Kulturen als Unkultur abspräche, weil unsere Vorfahren sich christianisieren ließen. Weil die frühere gesellschaftliche Organisation die "eigentliche", echte, authentische gewesen sei.
Modernität, recht verstanden, schließt Traditionspflege nicht aus. Es kommt auf die Verhältnisse, die Maße an.
Haimo L. Handl ist ist Politik- und Kommunikationswissenschafter.