Der in Wien geborene Komponist Walter Arlen erzählt von den schlimmen Tagen im März 1938, dem Glück, das er in Amerika fand, seiner großen Liebe zu Liedern - und von der Nostalgie über all das Verlorene, die in seiner Musik steckt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Herr Arlen, der 12. März 1938 war jener Tag, der Ihr Leben für immer aus dem vertrauten Gleis brachte. Können Sie sich daran erinnern?Walter Arlen: Ich kann mich genau erinnern: Es war es ein Samstag. Am Freitag davor fand das letzte Familienabendessen statt. Aber wir wussten natürlich nicht, dass es das letzte sein würde . . .
Ihrer Familie gehörte das Warenhaus Dichter in der Brunnengasse in Wien-Ottakring . . .
Ja, mein Großvater Leopold hatte es gegründet. Wir wohnten oben im Haus und aßen oft bei den Großeltern. Es war eine merkwürdige Familiensituation: Als erster Nachkomme der Enkelgeneration war ich sozusagen von den Großeltern übernommen worden. Meine Mutter hatte nichts zu sagen, und mein Vater sagte nichts. Ich fuhr mit den Großeltern in die Sommerfrische, ich ging jeden Mittag mit ihnen essen; oft ins koschere Restaurant Weiss, das war fabelhaft, so gut habe ich nie mehr gegessen. Der Mandelstrudel war ein Gedicht.
Und abends aß die Familie gemeinsam?Mittags gingen wir essen und am Abend gab es das Nachtmahl mit Butterbrot, Aufschnitt oder Fisch. Wichtig war es nur am Freitag, wenn die Kerzen angezündet wurden. An diesem Freitag war die Atmosphäre angespannt. Für Sonntag hatte Schuschnigg Wahlen angesetzt. Wir saßen vor dem Radio, das aussah wie ein kleines gotisches Fenster, alle sehr nervös, und hörten zu.
Erinnern Sie sich noch an die Gespräche an dem Abend?
An diesem Abend gab es keine Konversation. It was a fateful moment . . . - wie sagt man das auf Deutsch? Ein Moment, in dem das Schicksal sprach. Ich erinnere mich an Schuschniggs Stimme: Er sagte, dass die "Regierung der Gewalt weiche" und er nun zurücktreten werde. Stille. Dann die Hymne: Gott erhalte Franz den Kaiser, diese große Melodie.
Was haben Sie an jenem Abend gedacht?
Ich weiß noch, dass ich die Tür zu meinem Zimmer aufmachte und plötzlich ein riesiger Schluchzer aus mir herausbrach. Wir wussten nicht, was uns blühen würde, - aber es gab wohl eine Vorahnung. Mein Vater sagte am Samstagmorgen noch, mach’ dir keine Sorgen, es wird nicht so arg werden. In der Nacht um zwei pumperte es dann an der Tür, es war ein entsetzlicher Lärm, ich bin hinausgegangen und da standen acht SA-Leute, die mit ihren Gewehrkolben an die Tür schlugen. Sie gingen sofort ins Schlafzimmer, öffneten alle Kästen, steckten Bargeld und Schmuck ein. Einer von ihnen wusste, dass mein Vater Marken sammelte: Er fragte nach der Markensammlung und beschlagnahmte sie sofort.
Was passierte mit Ihnen?
Einer führte mich in mein Zimmer und schlug mich. Ich war 17 Jahre alt. Mein Vater musste sich anziehen und mitgehen. Sie brachten ihn ins Gefängnis in der Karajangasse. Nach einer Woche habe ich ihn dort besucht, das war ein unglaublicher Anblick: Die Menschen gequetscht wie Sardinen, es hat gestunken, mein Vater war unrasiert; ich habe bis heute keine Ahnung, wo ein Klo war, oder wo er schlief. Eine Tante versuchte, ihn mit 1000 Reichsmark herauszukaufen, was auch gelang. Mein Vater ist also über Bestechung freigekommen - von den Deutschen, die das Wort Bestechung angeblich gar nicht kannten!
Der Rest der Familie war noch in der Brunnengasse?
Ja. Meine Schwester Edit war 12. Wir gingen nicht mehr in die Schule. Für mich wären es noch drei Monate bis zur Matura gewesen, aber irgendwie war vollkommen klar, dass das vorbei ist.
In einer Nacht war alles anders geworden.
Ja. Mein Vater hat nichts erzählt, als er zurück war. Ich erinnere mich, wie ich am Fenster stand, und einen Riesenpöbel um das Warenhaus stehen sah. Ich hörte Geschrei, sah Fäuste, zerbrechendes Glas, aber am Montag war Ruhe. Da war schon der Ariseur Topolansky am Werk. Er war Privatbankier. Die elegante Bank, auf der unser Geld auf einem Sperrkonto lag, war am Graben 13. Dorthin musste ich gehen und um Geld betteln, und Topolanksy rief von hinten: Was will der kleine Jud schon wieder?
Wie lange hat es noch gedauert, bevor Sie ins Ausland fliehen konnten?
Eine Schwester meines Großvaters war in Amerika. Durch sie konnten wir Visa bekommen. Aber im Mai geriet mein Vater auf der Straße in eine Razzia und kam direkt nach Dachau. Meine Mutter brach zusammen und ich musste sie in ein Sanatorium bringen - der Vater im KZ, die Mutter in der Anstalt, so wie in jenem Lied von Eichendorff, das ich später vertont habe, "Es geht wohl anders".
Spielen Sie es mir vor?
(singt das Lied) "Es geht wohl anders, als du meinst, es geht wohl anders./ Derweil du rot und fröhlich scheinst, ist Lenz und Sonnenschein verflogen,/ die liebe Gegend schwarz umzogen/ Und kaum hast du dich ausgeweint . . .
Das hat sehr lange gedauert - nein, es hat ewig gedauert, bis das Weinen vorbei war.
(singt weiter) . . . lacht alles wieder, die Sonne scheint,/ es geht wohl anders, anders, anders - Es geht wohl anders."
Ihre Musik hat etwas von einem intimen Gespräch . . .
Ja, sie ist nach innen gekehrt. Sehen Sie, es war ja nicht nur meine Familie, die da zerbrochen ist - meine Mutter hat sich später das Leben genommen. Es war die Zerstörung von Wien, von Österreich, von einer ganzen Kultur. Von Johann Strauß bis zum Lied "Die letzte Blaue", einem Schlager, der von der letzten Straßenbahn erzählt, die nachts fuhr, man erkannte sie an ihrem blauen Licht. Die ganze hochstehende Kultur, die Künstler, die dann in KZs gebracht wurden - alles wurde in Hitlers Europa zerstört.
Wenn Sie darüber sprechen, scheint es, als seien Sie mittendrin.
Wie ich hier sitze, 75 Jahre danach, bin ich so aufgewühlt wie damals - und immer noch scheint mir das alles unglaublich. Diese Tragödie hat mein ganzes Leben belastet - mein Vater war in zwei KZs, meine Großmutter wurde in Treblinka ermordet, mein Cousin hat sich später erschossen, meine Mutter hat Selbstmord begangen. Während des Krieges musste ich sie bewachen, sie wollte vom Dach springen.
Und dann, als Sie 18 waren, sind Sie nach Amerika gegangen.
Am 14. März 1939 - einen Tag, bevor mein Visum ablief. Es war ein Glück, dass ich weg bin. Es ist überhaupt ein Wunder, dass ich lebe. Ich habe mich als Repräsentant von sechs Millionen ermordeten Juden gesehen - einer, der zufällig nicht ermordet wurde.
Welche Rolle spielte damals Musik für Sie?
Als Kind bin ich nicht besonders gefördert worden; ich lernte keine Grundlagen, wie etwa Harmonielehre. Aber als klar war, dass ich ein absolutes Gehör hatte, durfte ich Klavierstunden nehmen. Allerdings wandte das Fräulein Methoden an, mit denen sie heute ins Gefängnis kommen würde - sie ließ mich auf vertrockneten Erbsen knien, wenn ich nicht genug geübt hatte. Fürs Klavier hat sie mich verdorben.
Aber ich komponierte, seit ich zehn Jahre alt war. Es war immer nur als Hobby gedacht. "Klimperst du schon wieder? Mach Schularbeiten", sagte meine Mutter und lachte freundlich, aber es stand außer Frage, dass ich, der Erstgeborene, später das Warenhaus übernehmen sollte. Für mich war Musik schon früh etwas Lebensnotwendiges. Als ich später einmal keine Möglichkeit hatte, Musik zu machen, bin ich krank und depressiv geworden. Musik ist das Beste, was mir im Leben passiert ist - neben Howard, meinem Freund, der mir so unendlich viel geholfen hat. Ich bin wohl so etwas wie ein geborener Musiker.
Und in Amerika haben Sie Ihr Talent dann entfaltet.
Amerika war sicher mein Glück. In Chicago wartete ich bis 1946 auf meine Eltern, die aus England kamen. Ich hatte in Chicago eine sogenannte "kriegswichtige Beschäftigung" in einer Chemiefabrik, konnte aber auch bei Leo Sowerby Komponieren studieren. 1947 war ich dann zum ersten Mal in Santa Monica, wo bereits mein Großvater, ein Onkel und eine Tante lebten. Sie boten mir sogleich an, bei ihnen zu wohnen. Aber von 1947 bis 51 bin ich als Assistent von Roy Harris herumgezogen, wie ein Zigeuner, durch Colorado, Utah, Tennessee, ich war sein Reisegefährte, habe seine Partituren ins Reine geschrieben.
Haben Sie in dieser Zeit auch selbst komponiert?
Sehr wenig, und nur im Geheimen. Aber ich habe durch Harris gelernt, was es heißt, ein intensives Leben in und mit Musik zu führen. Also ist auch etwas herangereift für meine eigene Musik. Meine Lieder drücken ja etwas aus - das Verliebtsein in die Schönheit der Natur zum Beispiel. Liebe ist immer dabei. Ich kannte Lieder von früher Kindheit an. Immer legte eine Angestellte im Warenhaus Dichter die Platten auf. Und ich war stets besessen von Schubert.
1951 blieben sie dann in Santa Monica.
Bis heute. Hier hat es mir gefallen. Ich habe mich an der UCLA (University of California Los Angeles, Anm.) als Magister einschreiben lassen, gleichzeitig wurde mir Arbeit als Musikkritiker bei der "L. A. Times" angeboten. Ich habe dann 30 Jahre, von 1955 bis 1985, nicht komponiert. Ich konnte nicht, aber ich habe Ersatz gefunden, indem ich mich als Kritiker mit Musik beschäftigte. 1969 gründete ich an der Loyola Marymount University die Musikabteilung. 1985 legte Howard einmal Gedichte auf den Tisch, die Musik in mir wachriefen. Von da an konnte ich wieder komponieren - und ohne nicht mehr leben.
Im Westen von Los Angeles - in Santa Monica, Pacific Palisades, Beverly Hills - lebten und arbeiteten nach dem Krieg ja zahllose deutsch-jüdische Emigranten: Thomas und Heinrich Mann, Alfred Döblin, Bert Brecht, Aldous Huxley, Lion und Marta Feuchtwanger, die Musiker Igor Strawinsky, Bruno Walter, Arnold Schönberg und viele andere. Sie waren Teil dieser Exilgemeinde - wie war das Leben in dieser Verbundenheit?
Wunderschön! Strawinsky nannte das damalige Los Angeles einmal "the centre of the intellectual world". Ich gehörte ja der jüngeren Generation an, die Älteren waren Berühmtheiten, die ich bewunderte. Ich würde mir nicht anmaßen zu sagen, ich war mit ihnen befreundet - aber nahe waren sie mir alle. Und als Kritiker standen mir auch immer alle Türen offen.
Es gab, mitten in der Tragödie, also auch Glück?
Natürlich war vieles in Amerika ein großes Glück, aber das schließt das Unglück ja nicht aus. Es hat seit 1938 keine Minute mehr gegeben, in der ich völlig frei hätte lachen können. Wenn man nicht tot ist - was ich ja nicht bin -, dann ist man doch verwundet, von einer inneren Verzweiflung besessen. Immer gibt es eine Nostalgie für das, was man verloren hat, und für das, was man nie leben konnte. Das steckt alles in meiner Musik.
Musik ist also für Sie eher ein Weg, um es auszudrücken - nicht so sehr, um es zu verkraften?You can never come to terms with it. Es gibt kein Fertigwerden damit. Je älter ich werde, desto mehr sehe ich, wie belastet ich immer war. Ich kann nie vergessen, dass ja nicht nur ich betroffen bin, sondern die Menschheit.
Was bedeutet es für Sie, jüdisch zu sein?
Alles! Es hat natürlich auch immer eine schizophrene Situation bedeutet, denn ich bin ja in einem sehr katholischen Land aufgewachsen. Juden waren Außenseiter. Erst hier in Amerika war ich keiner mehr.
Was sind Sie in Ihrem Herzen? Österreicher? Amerikaner?
Österreicher kann ich nicht sein. Da ist zu viel Last. Ich denke nicht immer daran, aber die Last ist da. Jene Nacht im Rothschild-Palais, als ich mit vielen anderen wartete, um meinen Pass zu holen, damit ich ausreisen konnte. Es waren alte Juden da, die gezwungen wurden, Schnee zu schippen, und als ein alter Mann sich auf seine Schaufel stützte weil er nicht mehr konnte, brüllte ein SA-Mann ihn an: "Schaufel, du Saujud", schlug ihn auf den Kopf und erschoss ihn. Ich sehe es noch, das Blut auf dem Schnee. Oder als ich einmal meine Tante Gretel auf der Straße habe knien und mit einer Zahnbürste Wahlslogans wegputzen sehen. Die Nazis zwangen uns dazu. Auch in Österreich wird man nie fertig mit dem, was geschehen ist.
Als Musiker aber bin ich sicher Österreicher - unentwegt beschäftigt mit dem, was mir aufgezwungen wurde: dem Verlust des Vaterlandes, und dem Verlust der Liebe zum Vaterland. Ich habe Österreich doch geliebt!
Und jetzt lieben Sie Amerika?
Ich habe großes Glück gehabt in der Emigration. Glück auch, dass ich von einem inneren Trieb her mich mit Musik beschäftigen musste - und konnte! Jetzt sind die Tage, die ich noch lebe, zu zählen - und ich habe Angst, dass ich nicht fertig werde. Ich revidiere und revidiere . . .
Bernadette Conrad, geboren 1963, lebt als Journalistin in Konstanz. Sie schreibt Literatur- und Theaterkritik, Reisereportagen und führt Künstlergespräche.
Zur Person
Walter Arlen wurde am 31. Juli 1920 als Walter Aptowitzer in Wien geboren und wuchs als ältester Enkel von Leopold Dichter, dem Gründer des Warenhauses Dichter in der Brunnengasse, auf. In der Nacht vom 12. auf den 13. März 1938 brach die SA in die Familienwohnung ein und deportierte Walters Vater in die Karajangasse; später nach Dachau und Buchenwald. Seine Mutter musste Walter in ein Sanatorium bringen, bevor er selbst am 14. März 1939 zu Verwandten nach Chicago fliehen konnte.
Er hielt sich mit Jobs und - nach 1941 - "kriegswichtigen Tätigkeiten" in einer Chemiefabrik über Wasser und versuchte, seiner seit Kindheit größten Leidenschaft zu folgen: der Musik und dem Komponieren. Arlen lernte bei Leo Sowerby Kontrapunkt und war für mehrere Jahre Assistent von Roy Harris. Erst 1946 konnten Walters Eltern und seine Schwester Edith von England aus in die USA kommen. 1951 zog Arlen nach Santa Monica, wo er seither lebt. Er arbeitete als Musikkritiker für die "L.A. Times" und baute die Musikabteilung des Loyola Marymount College auf. Erst 1985 brachten ihn Gedichte von Johannes vom Kreuz, die ihn spontan zur Vertonung inspirierten, zur Komposition zurück; die unausgesetzte Arbeit an Liedern und kleinen tonalen Formen wurde nach 2000 durch seine fortschreitende Erblindung behindert.
Durch die Vermittlung von Michael Haas, dem wissenschaftlichen Leiter des "Institute for Suppressed Music" in London, entdeckte Wien Walter Arlen spät als großen Sohn der Stadt. Auf einer Gedenkmatinee 2011 wurde ihm das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien überreicht, und Arlen übergab seinen Vorlass seiner Heimatstadt. Walter Arlen war 91, als er die erste CD mit eigener Musik - die Liedersammlung "Es geht wohl anders" (Gramola, 2011) - in Händen hielt.