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Musikalische Sonderwege

Von Markus Vorzellner

Wissen
Adolph von Menzels Gemälde "Das Flötenkonzert von Sanssouci" (1850-1852) prägte das Bild, das sich die Nachwelt vom musizierenden Preußenkönig gemacht hat.Bild: Alte Nationalgalerie Berlin / Google Art Project.
© © Alte Nationalgalerie Berlin/ Google Art Project

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"Ich fing an, deutlicher zu sehen, was ich schon seit einiger Zeit geahndet hatte, dass dieser große Mann nicht, wie er verdiente, von allen Seiten bekannt war. Man hielt ihn fast allgemein für einen bloßen Soldaten, dessen Pläne nur auf den Krieg gerichtet wären (. . . ) Bei näherer Aufmerksamkeit auf des Königs Betragen fand man es aber ganz anders. Man sah, je mehr man ihn beobachtete, so viele Eigenschaften in ihm vereinigt, die sonst fast nie zusammenfinden."

Diese Beschreibung, die der Aufklärer Friedrich Nicolai im Vorwort seiner "Anekdoten von König Friedrich dem Zweiten von Preußen" gibt, räumt der Figur des Königs eine Sonderstellung in der Geschichte des preußischen Staates ein. Dieses Leitmotiv des Sonderweges oder der Sonderrolle kann jedoch ebenso auf jenen Staat selbst angewandt werden, dem Friedrich von 1740 bis 1786 vorsteht. So stellt schon das Kernland der späteren Großmacht, das dem vierten Großmeister des Deutschen Ordens, Hermann von Salza, 1226 zur Missionierung des namensgebenden Volkes der baltischen Pruzzen zugewiesen wurde, eine ungewöhnliche politische Ausgangssituation dar.

Der Weg Preußens führt vom Ordensstaat, der auf den Rat Martin Luthers hin 1525 zum erblichen Herzogtum umgestaltet wird, über die Vereinigung mit dem Kurfürstentum Brandenburg 1618 und die Erhebung zum Königreich unter Herzog Friedrich III. - als König: Friedrich I. - bis hin zur Keimzelle des Kaiserreichs von 1871.

Protestantische Musik

Auch in Bezug auf ein staatlich initiiertes Musikleben ist die preußische Geschichte als ein Sonderweg anzusehen. Vorformen einer Hofmusik können sich erst relativ spät etablieren, wobei die ursprünglichen Produktionen und Reproduktionen von Musik der liturgischen Erneuerung zu dienen haben, die der Brandenburgische Kurfürst Joachim II. im Sinn der Lutherschen Reformation mit aller Konsequenz durchführt. Auch die von Joachim ins Leben gerufene Hofkantorei wird diesem Zweck untergeordnet. Das Vokalensemble erfährt unter Joachims Nachfolgern durch die Hinzufügung von Instrumentalisten große Aufwertung, doch erst Kurfürst Johann Sigismund, der als Brandenburgischer Markgraf 1618 das Gebiet des ehemaligen Ordensstaates zum Erbe bekommt, wird dieses Ensemble hundert Jahre vor Friedrichs Geburt zu einem 37 Personen starken Orchester ausbauen.

Wenn man hier abermals das Motiv des Sonderweges bemühen kann, so deshalb, weil der kontinuierliche Auf- und Ausbau der preußischen Hofmusik 1713 ein jähes Ende erfährt. Friedrich Wilhelm I., der berüchtigte "Soldatenkönig", entlässt bei seinem Regierungsantritt nahezu die gesamte Hofkapelle und behält lediglich ein Ensemble aus Oboen und Fagotten, das von Johann Gottfried Pepusch geleitet wird.

Dieser königliche Geschmack nun verhält sich diametral zu dem des Kronprinzen, der vor 1740, dem Jahr seines Regierungsantritts, in seinen Refugien in Ruppin und, ab 1736, in Rheinsberg eine kleine Kapelle unterhält, durch die speziell ausgewählte Musik dargeboten wird. In diesem Zusammenhang überliefert Nicolai folgende Anekdote: Der Kapellmeister Pepusch hatte ein Stück für sechs Fagotte komponiert, die das Grunzen von Schweinen musikalisch nachempfinden sollten, ganz nach väterlichem Geschmack. Friedrich lädt Pepusch nun ein, dieses Stück in seiner Runde vorzutragen, wogegen sich der Musiker jedoch sträubt, weil er die spöttischen Intentionen des Prinzen kennt. Schließlich willigt Pepusch ein, jedoch mit einem As im Ärmel: "Mitten im Saale waren sechs Musikpulte gesetzt und die Hofleute lachten schon im Voraus darüber, dass da würde gegrunzt werden. Pepusch kam endlich mit sieben Hautboisten an. Er legte seine Musik ganz ernsthaft selbst auf die Pulte aus und als alle sechs belegt waren, sah er, mit einem Notenpapiere in der Hand, im Saale umher. Der Kronprinz (. . .) fragte ’Herr Capellmeister, sucht er etwas? Es wird noch ein Pult fehlen, antwortete Pepusch. ’Ich dachte - versetzte der Kronprinz lächelnd - es wären nur sechs Schweine in seiner Musik. Ganz recht, Ew. Königl. Hoheit, versetzte Pepusch; aber es ist noch da ein Ferkelchen gekommen: - Flauto solo."

Aus dieser Geschichte geht hervor, warum die musikalische Prägung Friedrichs außerhalb Berlins stattfinden musste. Der Weg der Inspiration weist nach Dresden, an den Hof Augusts des Starken, dem der König und der Kronprinz 1728 einen Besuch abstatten. Ihr Aufenthalt fällt in eine für das musikalische Niveau Dresdens eher bescheidenere Periode: Das Opernhaus am Zwinger war bereits 1719 eröffnet worden, unter Mitwirkung der besten Sänger ihrer Zeit, die im Folgenden vom anwesenden Georg Friedrich Händel sofort nach London weg engagiert wurden, und der für Friedrich später so bedeutende Johann Adolph Hasse wird dort erst 1733 sein Amt als Kurfürstlich-Sächsischer Kapellmeister antreten.

Der Lehrer Quantz

Trotzdem setzt gerade die Begegnung mit der Dresdner Hofkapelle wesentliche Impulse für Friedrichs musikalische Aktivitäten, die dem militärisch orientierten Vater in immer stärkerem Maß ein Dorn im Auge werden. Selbst der in sächsischen Diensten stehende Komponist und Flötenvirtuose Johann Joachim Quantz, der zweimal im Jahr nach Preußen reist, um dem Kronprinzen - ohne Wissen des Vaters - Flötenunterricht zu erteilen, zollt der Autorität des preußischen Königs "Respekt", wenn er sich vor dessen unerwartetem Erscheinen im Kleiderschrank des Zimmers versteckt und zitternd abwartet.

Der Regierungsantritt Friedrichs am 31. Mai 1740 hebt das musikalische Erscheinungsbild des Königshofes auf eine höhere Stufe, wenngleich auf Kosten des vom Vater favorisierten Tabakkollegiums, das der Nichtraucher Friedrich sofort auflässt. Das bis dato in Rheinsberg mit 20 Musikern geführte Privatensemble wird als Hofkapelle auf 37 Instrumentalisten aufgestockt; eine Balletttruppe wird ihr zur Seite gestellt. Als Krönung sämtlicher musikalischer Initiativen wird das von Georg von Knobelsdorff entworfene Opernhaus innerhalb des nicht vollendeten Forum Fridericianum erbaut.

Friedrich spielt weiterhin die Flöte und komponiert einige wenige Arien, in der Hauptsache jedoch Sonaten und Konzerte für sein Instrument, deren verschiedenen Ausformungen, wie Quellen belegen, er sich mit wahrer Akribie widmet - selbst an höchst ungewöhnlichen Orten. So schreibt er während des Zweiten Schlesischen Krieges, am 6. Oktober 1745, am Schlachtort Soor in Böhmen einen Brief an seinen "Geheimen Kämmerer" Michael Gabriel Fredersdorf: "Quantz soll mir doch zwei neue Flöten machen, aber recht extraordinäre, eine mit dem starken Ton, und eine, die sich leicht blaset und eine douce [weiche] Höhe hat, und soll sie behalten bis zu meiner Retour." Diese "Retour" sollte ihn als Sieger nach Berlin führen.

Trotzdem geht man fehl, wenn man meint, dass der König "seine" Musik zu Repräsentationszwecken verwendet wissen wollte. Wohl gab es eine Hofmusik im eigentlichen Sinn, so vor allem bei den Hoffesten der Königsmutter, Sophie Dorothea von Hannover, doch der praktizierende Flötist und Interpret seiner eigenen Werke übte seine Kunst nahezu ausschließlich im privaten Rahmen aus. In jenem Gemälde des preußischen Malers Adolph von Menzel, das etwa 65 Jahre nach Friedrichs Tod entstand und die Nachwelt mit dem Thema des flötespielenden Königs optisch konfrontiert, sieht der Betrachter elf nicht musizierende, also zuhörende Personen - eine Zahl, die bei der von Friedrich betriebenen radikalen Beschränkung seiner Zuhörerschaft eher unwahrscheinlich ist, selbst wenn Menzel die Identität dieser Repräsentanten des Königshofes offenlegt.

Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen hat dieses Bild, "Das Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci" (1850-1852), in der Folge auch das Medium Film entscheidend beeinflusst: So endet "Das Flötenkonzert von Sanssouci", der 1930 entstandene erste Tonfilm aus der bis 1942 gedrehten "Fridericus"-Reihe, in dem der von Goebbels als "Staatsschauspieler" ausgezeichnete Otto Gebühr den König darstellt, mit dem in die zeitliche Dimension entlassenen Menzelschen Stillleben. Gerade diese Szene evoziert eine Stimmung, die unfreiwilligerweise die Machart des gesamten Films karikiert; die unkoordinierten Fingerbewegungen Otto Gebührs beim Play-back auf der flauto traverso fallen dabei schon nicht mehr ins Gewicht.

Veraltete Maßstäbe

Wenn dieser Tonfilm aus der Weimarer Republik überhaupt eine Gleichnisfunktion für sich in Anspruch nehmen kann, dann wohl die, dass der vielbeschworene musikalische Sonderweg, den Friedrich als junger Revolutionär zu beschreiten gewagt hatte, letztendlich ins Nichts führte. Hatte Friedrich noch 1747, beim Besuch Johann Sebastian Bachs in Potsdam, dessen Musik als antiquiert abgetan, so trifft ihn fast 30 Jahre später dasselbe Verdikt. Als der König 1773 nach dem Tod seines Freundes, Mentors und Lehrers Quantz dessen 300. Flötenkonzert im altbekannten, lange Zeit hindurch praktizierten Stil vollendet, wird diese Art zu komponieren längst als antiquiert angesehen.

Die Reform des Musiktheaters durch Christoph Willibald Gluck war mit "Orfeo ed Euridice" (1762) und "Alceste" (1767) in Wien bereits über die Bühne des Theaters "bey der Hofburg" gegangen, und der Reigen seiner Pariser Opern sollte schon 1774 mit "Iphigénie en Aulide" beginnen. Was die Kammermusik betrifft, so hatte Joseph Haydn 1772 mit seinen "Sonnenquartetten" op. 20 bereits einen Weg beschritten, der die Gattung des Streichquartetts auf ein musikalisches Experimentierfeld führte, das sowohl für Haydn selbst als auch für nachfolgende Generationen zu einem Tummelplatz wurde, welcher der preußisch-königlichen Macht verschlossen blieb.

Die Beobachtung des Grafen Mirabeau, dass nach Friedrichs Tod am 17. August 1786 in Potsdam "nicht ein Bedauern, nicht ein Seufzer, nicht ein Wort des Lobes" zu vernehmen gewesen sei, mag wohl auch als Paradigma für einen einflussreichen, ja erfolgreichen Menschen stehen, der sich am Ende seines Wirkens an mindestens zwei Scheidewegen angelangt sieht - an einem politischen, aber auch an einem künstlerischen.

Markus Vorzellner lebt und arbeitet als Pianist und als Musikpublizist und Pädagoge in Wien.