Warnung vor Bürgerkrieg: Sicherheitskräfte töten bei Demo dutzende Anhänger der Muslimbrüder.
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Kairo. Beobachtet man die Szene im Kairoer Stadtteil Nasr City, kann man dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, seinem ehemaligen britischen Kollegen Tony Blair und auch vielen Kommentatoren recht geben, die vor einem Bürgerkrieg in Ägypten warnen. Unterschiedliche Gruppen mit Schutzhelmen und Schlagstöcken marschieren rund um den Platz vor der Rabaa-al-Adawija-Moschee auf. Entweder tragen die Beteiligten T-Shirts mit dem Logo der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, deren Vorsitzender Mohammed Mursi bis zu seiner Amtseinführung als erster Post-Mubarak-Präsident war. Oder sie tragen grüne Stirnbänder mit einer Huldigung Allahs als Schriftzug.
Jede Gruppe kommt aus einer anderen Stadt, aus Kafr el-Sheikh aus dem Nildelta, aus Beni Suef im Süden von Kairo oder sogar Assiut in Oberägypten. Sie sind mit Bussen hergebracht worden, um ihre Kollegen in Kairo in ihrem Kampf um die Wiedereinsetzung Mursis zu unterstützen. "Das Massaker", wie sie das Blutbad zwischen Sicherheitskräften und Mursi-Anhängern gestern Früh bei Tagesanbruch nennen, gibt ihnen nun eine doppelte Rechtfertigung, hier zu sein. Laut jüngsten Berichten wurden mehr als 50 Menschen getötet, fast 500 sollen verletzt worden sein. Schon am Wochenende kamen bei Zusammenstößen zwischen Mursi-Gegnern und Mursi-Befürwortern fast 50 Menschen ums Leben.
Trotzdem meint die Mehrheit der Befragten in Nasr City, dass Ägypten nicht in einen Bürgerkrieg abgleiten werde. "Wir haben doch keine Waffen", sagen die Herren mit den Schlagstöcken und weisen die Version der Sicherheitskräfte zurück, dass einige von ihnen mit Messern und leichten Waffen kurz nach vier Uhr morgens versucht haben sollen, das Hauptquartier der Republikanischen Garde, einer Spezialeinheit zum Anti-Terror-Schutz, zu stürmen.
Seit Tagen mehren sich Gerüchte, dass dort Mursi festgehalten werde. Bei dem Angriff, so die Stellungnahme der Sicherheitskräfte, sei ein Polizist getötet und zwei weitere seien gekidnappt worden, die sich allerdings schnell selbst befreien konnten.
"Das kann gar nicht sein", kontern die Demonstranten, die seit dem Sturz Mursis letzten Mittwoch hier ausharren. Sie haben Zelte aufgebaut oder schlafen unter freiem Himmel auf Teppichen am Boden. "Wir haben uns für das Morgengebet vorbereitet." Der Übergriff der Sicherheitskräfte sei unerwartet und ohne Vorwarnung gekommen. Sie hätten wild um sich geschossen und sogar einen kleinen Jungen getötet. Der Tod des Kindes ist es denn auch, der die Seelen aufwühlt und nach Vergeltung schreit.
Die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei hat mittlerweile zu einer "Intifada" aufgerufen, in Anlehnung an den Palästinenseraufstand gegen die israelische Besatzung. Auf einer Pressekonferenz am Mittag präsentierten ihre Mitglieder Patronenhülsen, aus denen die Sicherheitskräfte die tödlichen Schüsse abgegeben haben sollen. Auch die andere Seite präsentierte Kugeln und Videos, die angeblich "Terroristen" zeigen, die auf Polizei und Armee geschossen hätten. Das Gebäude der Republikanischen Garde liegt unweit des Demonstrationsplatzes der Mursi-Anhänger. Die Stimmung vor der Moschee ist hochexplosiv. Ein kleiner Funke und die Flammen greifen wieder um sich.
In einem schattigen Winkel zwischen zwei Hochhäusern haben sich Mitglieder diverser islamistischer Gruppen versammelt. Sie haben Decken auf dem Boden ausgebreitet und eine Zeltplane darüber gespannt. Aufgeregt gestikulierend analysieren sie das, was vor wenigen Stunden geschehen ist, überlegen, wie es weitergeht. Auch Mohammed Khalifa ist dabei. Er gehört den Salafisten an. Für ihn ist es - trotz aller Gräben zu den Muslimbrüdern - eine Selbstverständlichkeit, dass deren Nur-Partei den nationalen Dialog unter Übergangspräsident Adli Mansur jetzt aufgekündigt hat.
"Wir können uns doch nicht mit denen an einen Tisch setzen, die auf uns schießen", sagt Kahlifa wütend. "Damit haben sie die Chance einer Beteiligung des politischen Islam verspielt." Mit "sie" meint er die Militärs und deren General Abdul Fattah al-Sisi, der vielen noch vor ein paar Tagen, als der General Präsident Muri absetzte, als Retter in der Not erschien.
Als Reaktion auf den Aufruf der Muslimbrüder zur Intifada hat die ägyptische Justiz gestern Nachmittag die Schließung der Zentrale ihrer Partei für Freiheit und Gerechtigkeit angeordnet. In dem Gebäude seien Messer, brennbare Flüssigkeit und andere Waffen gefunden worden, die gegen Demonstranten eingesetzt werden sollten, erklärte ein Vertreter der Sicherheitskräfte als Begründung. Die Zentrale der Muslimbrüder im Kairoer Stadtteil Mokattam indes konnte gar nicht mehr geschlossen werden. Sie ist bereits verwüstet. Gegner Präsident Mursis hatten Anfang letzter Woche das Hauptquartier in Brand gesteckt, gestürmt und geplündert, was die Armee zum Eingreifen zwang. Um noch Schlimmeres zu verhindern, setzte tags darauf Verteidigungsminister Al-Sisi das 48-Stunden-Ultimatum. Wenig später war Mursis Präsidentschaft Geschichte. Nun ist Übergangspräsident Adli Mansur gefragt.
"Bringen Sie sich die nächsten Tag in Sicherheit"
Von ihm hängt es ab, ob die Wogen doch noch geglättet und die Bombe der Aggression auf Seiten der Islamisten entschärft werden kann. Zunächst kündigte Mansur, der in Personalunion Interimspräsident und Oberster Richter Ägyptens ist, eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle an. Die Staatsanwaltschaft habe Ermittlungen gegen 200 Verdächtige aufgenommen, die unmittelbar nach dem Gewaltausbruch vor dem Offiziersgebäude festgenommen wurden.
Bis jetzt haben die Maßnahmen Mansurs die Demonstranten in Nasr City nicht überzeugt. "Das ist doch Kosmetik", kommentiert Khalifa. Schon letzten Donnerstag habe man ihnen eine unabhängige Untersuchung versprochen, als Mursi-Anhänger vor der Kairoer Universität im Stadtteil Giza erschossen wurden. Es sei nichts passiert.
Bis jetzt habe man stillgehalten, sagt ein Salafisten-Kollege Khalifas, habe friedlich weiter demonstriert. "Aber jetzt reicht es: Bringen Sie sich die nächsten Tage in Sicherheit", gibt er noch als Ratschlag mit auf den Weg. Mit der Bildung einer Konsens-Regierung ist in Ägypten in nächster Zeit wohl nicht zu rechnen. Ganz im Gegenteil, es droht erneut Gewalt.
Ein zwölfjähriger Prophet
Der zwölfjährige Ali Ahmed ist derzeit der neue Youtube-Star Ägyptens. Denn in einem Interview, das ein Reporter der Zeitung "El Wady" im Oktober 2012 mit ihm führte, sagte der Bursche die Unruhen in Ägypten voraus. Das Video ist nun eine Renner auf Youtube.