Extremismusforscher Lorenzo Vidino über seine Rolle bei den Muslimbrüder-Ermittlungen und die Ziele der Organisation.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Fünf Jahre ist sie schon alt, dennoch taucht sie in Debatten immer wieder auf: die Studie "Die Muslimbruderschaft in Österreich" des Extremismusforschers Lorenzo Vidino aus dem Jahr 2017. Vergangene Woche beschwerte sich der frühere Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich Anas Schakfeh bei einer Pressekonferenz, dass ihm in der Studie fälschlicherweise eine Verbindung zur Muslimbruderschaft vorgehalten werde. Die Angaben Vidinos seien frei erfunden.
Bereits zuvor ist die Studie in den öffentlichen Fokus gerückt. Hintergrund sind die Ermittlungen, die in Österreich gegen mutmaßliche Mitglieder der Muslimbrüder laufen. Am 9. November 2020 fanden bei zahlreichen Beschuldigten Hausdurchsuchungen statt, die in neun Fällen im August 2021 vom Oberlandesgericht Graz für unzulässig erklärt wurden. Die Anordnung zu den Hausdurchsuchungen berief sich auch auf Erkenntnisse aus Vidinos Studie.
Politisch dürften die Ermittlungen im ÖVP-U-Ausschuss im Herbst Thema werden: Die Neos und die FPÖ haben Akten dazu aus dem Innen- und Justizressort angefordert, berichtete der "Standard". Die "Wiener Zeitung" sprach mit Vidino über seine Arbeit und Besonderheiten in der österreichischen Islamismus-Debatte.
"Wiener Zeitung": Herr Vidino, wie kam es 2017 zu Ihrer Studie?
Lorenzo Vidino: Der Österreichische Integrationsfonds hat mich kontaktiert und gemeinsam mit dem Verfassungsschutz die Studie beauftragt. Ich habe eineinhalb Jahre daran gearbeitet, mit der Studie einen Rahmen für die Debatte über die Muslimbruderschaft zu schaffen.
Nach der Veröffentlichung warf Ihnen die Muslimische Jugend schwere methodische Mängel vor und stellte rechtliche Schritte in den Raum.
Diese Organisationen geben immer an, ich liege falsch, meine Recherchen seien furchtbar, und man werde mich verklagen. In den zwanzig Jahren, in denen ich über die Bruderschaft geschrieben habe, wurde ich aber nie verklagt. Im Dezember 2020 wurde von manchen österreichischen Medien geschrieben, dass ich aufgrund der Studie wegen Rufschädigung verklagt worden wäre und verloren hätte. Das war aber falsch: Da mussten dann halt Widerrufe und Entschuldigungen veröffentlicht werden.
Schakfeh spricht von frei erfundenen Angaben in der Studie. Auf welche Quellen haben Sie Ihre Arbeit gestützt?
Interviews, Archivarbeit, Unternehmensdaten, Bücher, Artikel, soziale Medien. Für Schakfeh gilt wie für jede andere Person oder Organisation: Wenn meine Arbeit fehlerhaft ist und ihnen Schaden zugefügt hat: Warum verklagen sie mich dann nicht? Es handelt sich nur um allgemeine Kritik, persönliche Angriffe und leere rechtliche Drohungen: Das ist für mich ziemlich enthüllend.
Auch über ihre Person wurde in Österreich debattiert. Neos-Politikerin Stephanie Krisper rechnet Sie etwa "dem Umfeld der rechts stehenden Republikaner aus den USA" zu. Sind Sie Teil eines rechten Netzwerks?
Ich bin italienisch-amerikanischer Doppelstaatsbürger. In den USA war ich registriertes Parteimitglied der Demokraten. In Italien arbeitete ich in der Regierung unter Ministerpräsident Matteo Renzi, der linksten Regierung, die Italien seit dem Zweiten Weltkrieg hatte. Und ich bin Kolumnist für "la Repubblica", die einen Mitte-Links-Kurs verfolgt. Mich dem rechten Flügel zuzuordnen, ist also phänomenal. Krispers Zuschreibung ist typisch für diesen oberflächlichen Ansatz, dass jeder, der sich mit Islamismus beschäftigt, sofort ein extremer Rechter ist. Ich bin so etwas mittlerweile aber gewohnt.
Verfolgen Sie eine ideologische Agenda mit Ihrer Arbeit?
Ich nähere mich dem Thema als Wissenschafter an. Aber ich bin nicht komplett neutral, so wie Wissenschafter, die über organisierte Kriminalität forschen, nicht zu hundert Prozent neutral gegenüber ihrem Thema sind. Ich sehe Islamismus als eine problematische Ideologie, die die Beziehungen zwischen einer größer werdenden muslimischen Gemeinschaft und europäischen Gesellschaften stört. Diese Beziehung wird eines der großen Themen dieser und der nächsten Generation sein. Falls viele Muslime die Ideologie und die Erzählungen der Muslimbrüder und Islamisten übernehmen: Dann wird es große Spannungen geben.
Welche Ziele verfolgen die Muslimbrüder denn in westlichen Staaten?
Die Ziele der Bruderschaft im Westen sind klar anders als jene der Bruderschaft in der arabischen Welt. In einer Gesellschaft, in der Muslime eine Minderheit sind, versucht die Bruderschaft, ihre sozialen, politischen und religiösen Ansichten zu verbreiten und vom politischen Establishment als legitimer und moderater Vertreter der muslimischen Gemeinschaften wahrgenommen zu werden. Das ist sie aber nicht. Ihre Ansichten von Frauen- und Schwulenrechten bis hin zu ihrem Demokratieverständnis sind nicht mit dem westlichen Staatswesen kompatibel. Sie versuchen, ein Opfernarrativ unter Muslimen zu verbreiten, das Muslime von westlichen Gesellschaften entfremden soll.
Sie haben die Muslimbruderschaft in mehreren westlichen Staaten untersucht. Gibt es etwas, was Österreich von anderen Ländern unterscheidet?
Der Diskurs über die Muslimbruderschaft ist in Österreich enorm politisiert worden. Er wird von allen Seiten dazu benützt, Punkte gegen den politischen Rivalen zu erzielen.
In anderen Ländern passiert das nicht?
Natürlich gibt es solche Debatten in anderen Ländern. Aber ein solches Ausmaß an Politisierung sehe ich in keinem anderen Land. Kritik an Studien und Berichten ist gut und wichtig, in Österreich werden manche Informationen aber sofort verworfen - etwa dann, wenn sie von der Dokumentationsstelle für den politischen Islam kommen. Und zwar nicht nur von Organisationen, die dem Islamismus nahestehen, sondern auch teils vom politischen Mainstream. So etwas passiert überall, in Österreich ist es aber stärker als anderswo.
Was sind die Gründe dafür?
Ich bin kein Experte für österreichische Politik. Ich habe aber das Gefühl, es liegt an zwei Faktoren. Einerseits gibt es schon lange eine Allianz zwischen islamistischen Akteuren und dem linken politischen Spektrum. Andererseits hat Sebastian Kurz den Kampf gegen Islamismus zu einem seiner Hauptanliegen gemacht und für seine politischen Zwecke benutzt, um der Linken zu schaden. Weil beide Seiten das Thema so stark politisiert haben, gibt es wohl in Österreich diese Dynamik. Das ist schade, denn Gesellschaften sollten unparteiisch darüber diskutieren.
Wie sollte ein Staat mit der Muslimbruderschaft umgehen?
Es ist vielleicht eine naive Ansicht: Die Debatte sollte entpolitisiert werden. Sie sollte auf Fakten beruhen, die Lage sollte beurteilt werden: Was ist die Bruderschaft, stellt sie eine Herausforderung dar? Der erste Schritt ist, Wissen aufzubauen. Es muss klar sein, worüber geredet wird. In Frankreich wurde die Debatte über die Bruderschaft weitestgehend entpolitisiert. Es gibt einen überparteilichen Konsens, dass Islamismus eine Herausforderung darstellt und wie damit umgegangen werden muss.
In Österreich stehen vor allem die Ermittlungen gegen die Organisation im Fokus.Von mancher Seite wird ausgeführt, dass Sie eine wichtige Rolle bei diesem Verfahren spielen sollen, so jüngst in einer Dokumentation des katarischen Fernsehsenders Al-Jazeera.
Dass ich das Mastermind hinter all dem sein soll, amüsiert mich. Meine Rolle ist folgende: In der ersten Woche im März 2020 machte ich in Graz eine Zeugenaussage. Mir wurde gesagt, dass es Ermittlungen gegen die Bruderschaft gibt. Details wie Namen und Ermittlungsschritte wurden mir nicht genannt. Bei dieser Aussage habe ich quasi die Erkenntnisse meiner Studie wiederholt und allgemein über die Muslimbruderschaft geredet. So etwas habe ich schon in einem Dutzend Ländern bei Gerichtsverfahren gemacht. Das ist mein Job.
Hatten Sie sonst noch etwas mit den Ermittlungen zu tun?
Diesen März habe ich nochmals in Graz als Zeuge ausgesagt und über ein paar weitere Aspekte Angaben gemacht. Das war es, ich habe keinen Einblick in das Verfahren und keinen Einfluss auf die Ermittlungen.
In dem Verfahren gab es eine Gerichtsentscheidung, wonach einige Hausdurchsuchungen unzulässig waren. Auch wurden Verfahren gegen Beschuldigte rechtskräftig eingestellt, etwa gegen Schakfeh und seine Privatstiftung. Eine Anklage gibt es bisher nicht.
Darüber kann ich nichts sagen, da ich keinen Einblick in die Ermittlungen habe. Ich kann nur allgemein als jemand, der in vielen Ländern solche Verfahren verfolgt hat, sagen: Es ist üblich, dass die Strafverfolger kleine und große Schlachten verlieren.
Wann begannen Sie eigentlich damit, sich für Islamismus und die Muslimbruderschaft zu interessieren?
Ich komme aus Mailand. Als ich dort in den 1990er-Jahren studiert habe, befand sich in meiner Nachbarschaft eine salafistische Moschee. Personen, mit denen ich Fußball gespielt habe, haben die Moschee besucht und sind dann plötzlich zum Kämpfen nach Bosnien aufgebrochen. Das hat mich interessiert.
Worauf sind Sie gestoßen?
Es gab im Umfeld der Moschee die militanten Dschihadisten mit den langen Bärten. Der dortige Imam war etwa der Anführer der Mudschahedin in Bosnien. Die Financiers hinter der Moschee waren aber Muslimbrüder - etwa Youssef Nada, einer der Gründer der Bruderschaft in Österreich. Das waren gut gekleidete Geschäftsleute, denen eigene Banken gehörten und die mit Politikern Hände schüttelten. Sie waren die Eigentümer des Gebäudes, in dem die Moschee untergebracht war, sie haben die Leute bezahlt, die dort arbeiteten. Das war eine interessante Dynamik.
Was unterscheidet die Muslimbruderschaft von Dschihadisten?
Die Muslimbruderschaft ist schwieriger zu durchschauen, es gibt mehr Graubereiche. Ihre Mitglieder haben ein Bein in der einen Welt und eines in der anderen. In einem Moment schütteln sie mit westlichen Politikern Hände und sprechen über Integration, im nächsten Moment treten in ihren Moscheen Prediger auf, die das Töten von Juden und Schwulen propagieren.
Sollte die Muslimbruderschaft verboten werden?
Sie hat das Recht zu existieren und im Rahmen der Meinungsfreiheit zu operieren, solange sie sich im Gesetzesrahmen bewegt. Aber die Politik sollte sich bewusst sein: Wer sind die Akteure, wie operieren sie, was wollen sie und welche Ansichten vertreten sie? Ich sehe das wie bei der Identitären-Bewegung: Es obliegt den einzelnen Staaten, ob sie diese Organisationen verbieten wollen. Aber jedenfalls sind sie problematisch, und die Gesellschaft sollte sich dessen bewusst sein.
Ein oft verwendeter Begriff in der Debatte ist der Begriff Islamophobie. Einerseits wird er benutzt, um Kritik am Islam als pauschal unzulässig darzustellen. Andererseits gibt es auch islamophobe Haltungen in Politik und Gesellschaft und Diskriminierungen von Muslimen. Wie sollte man also mit diesem Begriff umgehen?
Die französische Regierung will den Begriff gar nicht verwenden und fordert, dass auch die EU nicht mehr auf ihn zurückgreift. Ich stimme dem nicht zu, denn Islamophobie existiert. Das Problem ist, wenn der Begriff instrumentalisiert wird. Es gibt auch Gruppen, laut denen jede Kritik an Israel Antisemitismus sei. Das ist natürlich falsch. Damit wird ein Begriff ausgenützt, dasselbe gilt für Islamophobie: Manche Gruppen wissen, wie sie ihn benützen und zur Waffe machen können. Denn kein Politiker will islamophob genannt werden.
Die Muslimbruderschaft wurde 1928 in Ägypten gegründet. Sie gilt als älteste und einflussreichste islamistisch-sunnitische Bewegung und lehnt den säkularen Staat ab. Die islamische Rechtsordnung ordnet sie dem weltlichen Recht über. In Österreich ist sie offiziell nicht vertreten.