Ägyptens Armee könnte laut Politologen von der Krise profitieren.
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"Wiener Zeitung": Ist nach der Gewalteskalation in Ägypten eine Versöhnung zwischen Muslimbrüdern und Reformern noch möglich?Rachid Ouaissa: Eigentlich haben sie keine andere Wahl. Sonst droht ein Bürgerkrieg. Ich denke daher, dass beide Seiten keine Zuspitzung der Situation wollen. Wobei die Muslimbrüder viel mehr zu verlieren haben als die Bewegung auf der Straße, weil sie an der Macht sind. Die nächsten Wahlen sind bald - zum Parlament und über die Verfassung. Die Muslimbrüder verspielen gerade viel Vertrauen und viel an Popularität, die sich in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut hat. Zudem zeigt sich eine Spaltung innerhalb der Muslimbruderschaft, einige Berater von Präsident Mohammed Mursi sind ja schon zurückgetreten.
Sind die Muslimbrüder überhaupt eine einheitliche Bewegung?
Nein, sie sind heterogen. Es existiert ein Wirtschaftsflügel, das sind etwa Unternehmer, die das islamische Projekt mit der Moderne vereinen wollen. Dieser Teil will vor allem wirtschaftliche und soziale Reformen. Dann gibt es einen moralischen Flügel, dessen Vertreter bei der Diskussion über die Rolle der Scharia auf jeden Beistrich achten. In den beiden Flügeln gibt es meiner Erfahrung nach auch eine verschiedene Klassenzusammensetzung. Der wirtschaftliche Flügel besteht eher aus Angehörigen der Ober- und Mittelschicht, denen Stabilität wichtig ist und die sich den liberalen Kräften im Land öffnen wollen. Der moralische Flügel rekrutiert sich mehr aus den Regionen außerhalb der Großstädte. Wenn er sich in Kairo zeigt, dann höchstens in den Slums. Dieser Teil möchte mit den Salafisten und allen möglichen Extremisten koalieren.
Drohen diese Gegensätze die Bewegung zu sprengen?
Ja. Entweder dem wirtschaftlichen Flügel gelingen Reformen und er gewinnt durch wirtschaftliche Kompetenz Popularität. Dann wird das eine Partei wie die CDU, und der religiöse Teil verliert an Bedeutung und spielt keine große Rolle mehr bei der Mobilisierung breiter Schichten der Gesellschaft. Oder die wirtschaftlichen Probleme werden nicht gelöst, dann wird sich die Bewegung religiös radikalisieren. Beides führt zu einer massiven Dikreditierung der Muslimbruderschaft. Und beides könnte das Ende des politischen Islams bedeuten, zumindest wird er nicht mehr diese starke Kraft sein.
Hat die Krise in Ägypten Auswirkungen auf andere arabische Länder?
Ich denke, die Muslimbrüder werden in Ägypten ihre Chance verspielen, und das strahlt auf andere arabische Staaten aus. Es stellt sich heraus, dass die Muslimbrüder, die vermeintlich die Lösung für alle Probleme haben, Machtopportunisten und genau so banal wie alle anderen Parteien sind. Denn es geht ja auch um Ämter, Positionen und viel Geld. Je mehr die Muslimbrüder an die Macht kommen, desto stärker verlieren sie. Ihre Wiederwahl ist dann nur gerechtfertigt, wenn sie die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme lösen, und es hat nicht den Anschein, dass sie dazu in der Lage sind.
Hat in Ägypten Präsident Mursi, der ja sich selbst mittels Dekrete viel Macht zuschob, die Reaktionen auf diesen Schritt unterschätzt?
Mursi verhielt sich wie ein Elefant im Porzellanladen. Ohne Zweifel hatte er auch schlechte Berater. Die Muslimbrüder haben nicht verstanden, dass dieses Volk, das 50 Jahre unter einer Diktatur gelebt hat, sich nicht eine Verfassung und Gesetze aufzwingen lässt, ohne dass es darüber einen gesellschaftlichen Konsens gibt. Die Ägypter haben sich vom ersten Diktator befreit und werden auch keinen zweiten akzeptieren.
Welche Rolle spielt das Militär im aktuellen Konflikt?
Die Armee könnte der große Gewinner sein. Wenn sie interveniert, dann, um die Macht zu ergreifen. Sie würde sich als Hüterin der Ruhe und der Stabilität präsentieren.
Zur Person
Rachid
Ouaissa
leitet den Lehrstuhl Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Philipps-Universität Marburg. Im Rahmen verschiedener Projekte besucht er immer wieder Ägypten und forscht dort über islamische Parteien.