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Muss man Kracht neu lesen?

Von Christina Böck

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Eine der verführerischsten Fallen der Literatur-Interpretation ist der biografische Zugang. Schon in den Anfängen der Freudschen Psychoanalyse kritisierte Karl Kraus, dass der künstlerische Wert eines Werks nicht allein dadurch bemessen werden könne, wie schillernd die Kindheitstraumata eines Schöpfers ausgefallen seien. Nicht umsonst weigern sich viele Schriftsteller, mit Brocken persönlicher Geschichte deutungshungrige Leser zu füttern. So wie der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht. Er galt bisher als einer der verschlossensten Vertreter seiner Zunft - er meldete sich nicht einmal zu Wort, wenn man ihm faschistische Ästhetik vorwarf.

Nun hat Kracht eine Poetikvorlesung an der Goethe-Universität in Frankfurt gehalten. In dieser traditionellen Veranstaltung - die erste hielt 1959 Ingeborg Bachmann - erklären Autoren die Hintergründe ihres Schreibens. Kracht erzählte dort, er habe erst kürzlich verstanden, dass er als Kind missbraucht wurde. Ein Kaplan seines kanadischen Elite-Internats hatte sich an ihm vergangen. So mancher Rezensent, der Kracht noch vor kurzem als Edelrassisten abqualifizierte, meint nun, das ganze Werk des Autors müsse neu ausgeleuchtet werden. Als erhielte es nun eine neue Qualität. Das erinnert in absurder Parallelität daran, wie die Werke von Künstlern, die der Täterschaft von Missbrauch beschuldigt werden, in neuem, fahlem Licht gesehen werden.

Für jemanden, der zum Opfer einer Straftat geworden ist, ist das freilich die nächste Demütigung.