Kiew pocht auf Visafreiheit und eine EU-Beitrittsperspektive. Brüssel fordert wiederum raschere und mehr Reformen.
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Kiew/Wien. "Wenn er mit mir spricht, redet er nie ukrainisch", sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verwundert, deutete mit hochgezogenen Augenbrauen auf seinen Sitznachbarn Donald Tusk und sorgte so für einen von vielen Lachern am EU-Ukraine-Gipfel am Montag in Kiew. Der EU-Ratspräsident hatte kurz davor einige Worte an die Anwesenden in - durchaus holprigem - Ukrainisch gerichtet. Damit sorgte er für einen "Bravo"-Ausruf und Applaus vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, der gleich darauf hinwies, dies sei eine Premiere. Noch nie habe ein EU-Spitzenpolitiker im Zuge eines EU-Ukraine-Gipfels, immerhin bereits in der 17. Auflage, ukrainisch gesprochen. Ein "Symbol" sei dies für die neuartigen Beziehungen zwischen dem krisengeplagten ehemaligen Sowjetstaat und Brüssel.
Die Späße konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU - abgesehen von Reform-Mahnungen - großteils mit leeren Händen nach Kiew gekommen war. Poroschenko erwartet von Brüssel unter anderem Visa-Freiheit - nicht zuletzt, um den eigenen Bürgern einen greifbaren Vorteil der pro-europäischen Politik geben zu können. Die EU ist hier jedoch zögerlich, nicht zuletzt, da Kiew keine Kontrolle über alle Teile seines Territoriums und Grenzen hat.
So gab hauptsächlich die ukrainische Seite hoffnungsvolle Erklärungen ab. Premier Arsenij Jazenjuk sagte, die Freihandelszone mit der EU (die volle Umsetzung des Freihandelsabkommens wurde wegen der Krise mit Russland verschoben) werde mit 1. Jänner 2016 in Kraft treten, komme, was wolle. Poroschenko erklärte, er wisse, dass die europäische Zukunft der Ukraine "vor allem bei uns selbst liegt". Er pochte auf eine Beitrittsperspektive und setzte sich zum Ziel, dass sein Land in fünf Jahren bereit sein werde, die EU-Mitgliedschaft zu beantragen. "Die EU ist ohne die Ukraine nicht komplett, genauso wie die Ukraine ohne EU nicht ganz ist." Auch in der Visafrage sah er nach den Gesprächen eine Annäherung mit Brüssel, ohne jedoch konkret zu werden.
Überschattet wurde der Gipfel von Meldungen über schwere Kämpfe im Osten des Landes. Laut Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hätten sich bei der Ortschaft Schyrokyne ukrainisches Militär und prorussische Aufständische den schwersten Beschuss seit dem Beginn einer offiziellen Waffenruhe Mitte Februar geliefert. Mindestens ein Soldat wurde dabei getötet.
Die EU wird nach Ansicht der deutschen Kanzlerin Angela Merkel die im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt verhängten Sanktionen gegen Russland im Juni verlängern. Die polnische Ministerpräsidentin Ewa Kopacz hält eine Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland für möglich, da OSZE-Beobachter weiter keinen Zugang zu von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten hätten.
Am Ende hatte Juncker noch ein Späßchen auf Lager. Er erinnerte an den ersten EU-Ukraine-Gipfel, den er 1997 als Ko-Vorsitzender mit Ex-Präsident Leonid Kutschma geleitet hatte. Kollegen hätten ihn damals gefragt, wozu er das mache, denn die Ukraine würde niemals eine wichtige Rolle für Europa spielen. "Das sagt Ihnen, mit wie viel Weitblick EU-Politiker agieren", kommentierte Juncker diese Anekdote selbst. "Und - wie alt ich schon bin."