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Müssen Politiker wirklich lügen?

Von Peter Stiegnitz

Gastkommentare

Eine der vielen Ursachen des Absturzes der ungarischen Sozialisten bei den Parlamentswahlen war das unverständliche und unprofessionelle Lügen-Bekenntnis des Ex-Premiers Ferenc Gyurcsány. Natürlich war er nicht der einzige lügende Politiker. Je schwächer ein Mensch ist, erst recht, wenn er auf der rutschigen Politik-Bühne zu stehen versucht, umso mehr muss er lügen. Die wirklichen Gründe der politischen Lüge sind die "Sieben Sünden" des Politikers:


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* Schlechtes Gedächtnis: Alles, was er sagt, wird dokumentiert; Erinnerungslücken werden notdürftig mit Lügen überdeckt.

* Spiel mit den Medien: Die Sucht nach medialer Präsenz veranlasst zum Lügen.

* Selektion der "Höflinge": Politiker-Sekretäre sieben die Informationen und geben nur die "guten" weiter.

* Künstliche Feindbilder: Statt politischer Konkurrenz wird nur die Auseinandersetzung forciert.

* Mangel an Selbstkritik: Abgehobenheit und Überschätzung eigener Fähigkeiten zwingen zum Lügen.

* Erfolgsdruck: Die meisten Politiker stehen ständig vor irgendwelchen Wahlen.

* Unkontrollierte Angriffslust: Man will Konkurrenten immer kleinmachen.

Je massiver diese "Sieben Sünden" den Weg des Politikers begleiten, umso mehr muss er lügen - ob er nun will oder nicht.

Politik ist kein Monopol der Politiker; jeder von uns betreibt "Politik", niemand lebt neben oder gar außerhalb der politischen Geschehnisse. So formt die politische Lüge auch den Seelenzustand der Österreicher: "Wir hoffen für die Zukunft nur das Schlimmste und befürchten für die Vergangenheit nur das Beste."

Während die politische Lüge der Deutschen in eine permanente Selbstschuldzuweisung mit politischer Polarisierung mündet, ist es in Österreich eine historische Fremdschuldzuweisung samt politischer Personalisierung. Die Folge davon: Die Deutschen neigen immer noch auch zu links- wie rechtsextremen politischen Bewegungen, die Österreicher bleiben gerne in der politischen Mitte und fokussieren ihre politischen Ansichten und Hoffnungen gerne auf einzelne, hervorstechendste Persönlichkeiten, von Kaiser Franz Joseph bis Bruno Kreisky.

Politiker und Journalisten rangieren auf der unteren Stufe der angesehenen Berufe. Daher verdienen Politiker, in Relation zum Arbeitsaufwand, wenig; manche nicht einmal unsere Achtung. In Politik und Medien gibt es ein gewisses Zusammenspiel beider Gruppen, die - miteinander oder unabhängig voneinander - aus echten Mücken falsche Elefanten machen.

Dank der relativ weit verbreiteten politischen Lüge in Österreich wechseln wir gern den Platz unter der Sonne mit jenem unter dem Teppich; dorthin kehren wir unsere vielen kleinen und größeren Fehlhaltungen. Weil noch genug Platz ist, räumt kein heimischer Politiker wegen seiner Fehlhaltungen seinen Posten. Wobei die meisten Österreicher, erst recht die Politiker, nicht so sehr die Lüge fürchten, sondern das Ertapptwerden. Da das gängige (und falsche) Vorurteil gilt, dass "alle Politiker lügen", nimmt man die Lüge als Werkzeug der Politiker ohne weiteres in Kauf.

Peter Stiegnitz ist Soziologe, Begründer der Mentiologie (Lehre von der Lüge) und Buchautor ("Lügen - aber richtig").