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"Müssen politische Zukunft Europas selbst in die Hand nehmen"

Von Teresa Reiter (WZ Online)

Politik
Die katalanische Nonne Teresa Forcades fordert eine Entkopplung der politischen Zukunft Europas von reiner Parteipolitik.
© Team Teresa Forcades

Einen radikalen Bruch mit der gegenwärtig dominanten ökonomischen und politischen Praxis will die Nonne Teresa Forcades i Vila herbeiführen.


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Die katalanische Ärztin, Theologin und Nonne Teresa Forcades i Vila machte in Spanien und überall sonst, wo sie sich zeigte, Schlagzeilen. Sie tritt für eine Entkopplung der politischen Zukunft Europas von reiner Parteipolitik ein und fordert den Einzelnen auf, sich für eine demokratischere und sozialere Zukunft der Welt jenseits des Kapitalismus zu engagieren. Teresa Forcades i Vila war auf Einladung des Democracy in Europe Movement im Werk X in Wien zu Gast.

"Wiener Zeitung": Man nennt Sie links, eine politische Aktivistin, eine feministische und radikale Nonne. Sind diese Labels Teil einer Art Superheldinnenfigur oder haben bestimmte Gruppen einfach Angst vor Ihnen?

Teresa Forcades i Vila: Labels sind immer unzureichend, aber können ein bisschen Wahrheit enthalten. In meinem Fall ist es richtig, dass ich eine Nonne und Feministin bin und es stimmt, dass ich entschlossen bin, einen radikalen Bruch mit der gegenwärtig dominanten ökonomischen und politischen Praxis herbeizuführen, allerdings mit friedlichen und demokratischen Mitteln.

Die Kirche war lange Maßstabgeber für Moral und Werte in der Gesellschaft, in Europa besonders in den südlichen Staaten. Diesen Status hat sie weitgehend verloren. Ist ihre Aufgabe jetzt in guten Händen?

In den letzten Jahrzehnten wurde der Begriff "Werte" in einem progressiv säkularisierten Europa nicht besonders beachtet, speziell im Süden, wo man sich von den Diktaturen des langen 20. Jahrhunderts erholte. Aufgrund der Krise aber, gewinnen in den letzten Jahren linke demokratisierende Bewegungen, wie etwa die Indignados und rechte xenophobe Parteien an Stärke und kämpfen um das Vakuum, das die moralische Nachlässigkeit des kapitalistischen Individualismus hinterlassen hat. Die xenophobe autoritäre Reaktion ist natürlich nicht gut, aber die linke wird gut sein, wenn sie wirkliche Demokratie artikulieren kann.

Die Kirche hat lange ein grenzübergreifendes globales Wertesystem angeboten. Wären Herausforderungen wie die Flüchtlingskrise einfacher zu bewältigen gewesen, wenn man sich in Europa noch diesem Wertesystem untergeordnet fühlen würde?

Viele, auch der gegenwärtige Papst, interpretieren das Evangelium in einer Art, die Freiheit der Menschen und Solidarität bewirbt, aber leider hat das "Wertesystem" der Kirche nie eine Garantie gegen Missbrauch und Brutalität dargestellt. Es hat viele humanitäre Initiativen auf lokalem aber auch globalen Level hervorgebracht, wenn Sie nur an das Menschenbild denken, das eng an Freiheit und Würde geknüpft ist und dass das auch die Idee des Internationalen Rechts ist. Aber das hat zum Beispiel auch nicht gereicht, um Sklaverei oder Kolonialisierung zu verhindern, sondern bei dem auch noch nachgeholfen. Was in der Vergangenheit aber funktioniert hat und heute immer noch funktioniert, ist Solidarität, die nicht von einer einzigen Institution monopolisiert wird, sondern Menschen mit verschiedenen Backgrounds und Überzeugungen zusammenbringt.

Was könnte ein Nachfolger der Kirche sein, um neue Wertesysteme anzubieten? Können Sie etwas mit der europäischen Idee einer Selbstverpflichtung zu europäischen Werten anfangen? Wieso funktioniert die Solidarität von der Sie sprechen momentan nicht einmal in Europa?

Albert Camus hat geschrieben, dass Europa nur eine Zukunft haben wird, wenn man auf die Ideen der Philosophin Simone Weil in ihrem Werk "The need for roots" aufbaut. Dem stimme ich zu: Eine demokratische Verfassung muss auf gegenseitiger Verantwortung der Menschen gegenüber den Bedürfnissen der anderen aufgebaut sein und darauf, dass privates Eigentum nicht als absolutes Recht gesehen werden darf.

Wer soll diese Idee in Europa propagieren? Woher sollen die Unterstützer der sozialen Solidarität in der Zukunft kommen, wenn alte sozialdemokratische oder sozialistische Parteien in Europa ihre linke Ideologie lange aufgegeben haben?

Wie ich schon sagte, sehe ich Hoffnung in den linkspopulistischen Bewegungen, wenn sie die Beschränkungen unserer jetzigen repräsentativen Demokratien überwinden können und deliberative Demokratie propagieren. Aber linke Bewegungen sind nicht dasselbe wie linke Parteien. Ich glaube nicht, dass Parteien die notwendigen Veränderungen herbeiführen können.

Sie sind selbst in einer solchen Bewegung aktiv. Wieso? Haben Sie das Gefühl, dass unzufriedene Europäer ungewöhnliche Leitfiguren brauchen, um den Status quo zu überwinden?

Die unzufriedenen Europäer brauchen engagierte Führungskräfte, aber mehr noch, sie müssen selbst Verantwortung übernehmen und ihre politische Zukunft selbst in die Hand nehmen, und zwar ohne falsche oder oberflächliche Illusionen und unverzüglich.

Woher kommt die viele Unzufriedenheit überhaupt? Sie haben oft der Wirtschaftskrise und dem neoliberalen Kapitalismus die Schuld gegeben, aber was ist mit den Leuten, die für rechte Parteien stimmen, weil sie keine Flüchtlinge in ihrem Land wollen?

Es gibt zu viel Angst und Misstrauen gegeneinander da draußen. Wir müssen dringend hinaus auf die Straße gehen und einander kennenlernen. Das Überwinden der Isolation des kapitalistischen Individualismus ist der Schlüssel. "Ich werde nicht frei sein, bis wir alle frei sind" ist ein alter Spruch, den wir uns heute von Neuem zu eigen machen müssen.

Was ist ihr Vorschlag für eine alternative ökonomische und politische Architektur, die soziale Gerechtigkeit und Wohlstand für alle besser herbeiführen könnte, als Sie das dem Kapitalismus zutrauen?

Die Veränderung, die ich mir vorstelle muss global sein, aber jeder Einzelne muss sich ihr auch auf lokalem Level engagieren. In Spanien existiert gegenwärtig eine Volksbewegung für die Unabhängigkeit Kataloniens. Das ist, wo ich mich engagiere.