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Mut zur Veränderung

Von Michael Bünker

Reflexionen

Die Reformation, die sich heuer zum 500. Mal jährt, ist zwar nur als Ereignis ihrer Zeit zu verstehen, hält aber dennoch Lehren für heute bereit.


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Hat vor 500 Jahren, im Oktober 1517, seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel formuliert: Martin Luther, hier sein Denkmal in Wittenberg.
© gemeinfrei

"Die" Reformation gibt es nicht. Erst im 19. Jahrhundert - wesentlich beeinflusst durch Leopold von Rankes "Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation" (1839-1847) - wurde der Begriff "Reformation" zu einer Epochenbezeichnung. Ranke begrenzte die Epoche auf den Zeitraum zwischen 1517 und 1555, nach seiner Darstellung beginnt sie also mit der Auseinandersetzung um Martin Luthers "95 Thesen" gegen den Ablasshandel und endet mit dem Augsburger Religionsfrieden.<p>Die heutige Sicht ist da wesentlich differenzierter. Die Reforma-tion hatte mit den spätmittelalterlichen Reformbewegungen schon wesentlich früher begonnen und kann nicht verstanden werden, ohne ihre Auswirkungen im Zeitalter der Konfessionalisierung und der Religionskriege bis hin zur Aufklärung in den Blick zu nehmen. Als Beispiele sei auf die Darstellungen von Diarmaid MacCulloch von 2003 ("Reformation. Europe’s House Divided. 1490- 1700") oder Thomas Kaufmann ("Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation") von 2016 verwiesen.

<p>Zugleich, auch wenn Martin Luther eine herausragende Stellung zukommt, kann der umfassende Veränderungsprozess nicht auf ihn und sein Wirken in Wittenberg, das ja "am Rande der Zivilisation" gelegen war (wie er selbst bemerkte), beschränkt werden. Die Reformation hat aus vielfältigen Reformationen bestanden, sie war ein gesamteuropäischer Aufbruch von letztlich weltgeschichtlicher Bedeutung und weltweiter Auswirkung.<p>

Der Mensch vor Gott

<p>Dabei ging es nicht nur um eine Protest- und Reformbewegung angesichts der damaligen Missstände in Kirche und Gesellschaft, sondern im Kern um eine neue Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zu Gott, zu sich selbst, zu den Mitmenschen und der Welt. In dieser Bestimmung greift die Reformation auf biblische Grundlagen, insbesondere die Theologie des Apostels Paulus zurück und hat sich von daher nicht als Gründung von etwas Neuem, sondern im Sinne der Wiederentdeckung zentraler biblischer Inhalte, nach denen sich Kirche und Gesellschaft ausrichten sollten, verstanden.<p>

Kein Reformator wollte die Spaltung der Christenheit im Westen herbeiführen oder gar eine neue Kirche gründen. Ihr Anliegen war die Reform im Sinne der Rückkehr zu den Grundlagen, die durch die mittelalterliche Geschichte fortschreitend verdunkelt worden waren, und ihrer aktualisierten Umsetzung unter den Bedingungen der jeweiligen Zeit. Dieses Prinzip der Erneuerung durch Rückbesinnung auf den Anspruch der Ursprünge ist in der Parole ecclesia semper reformanda ("die immer wieder zu verändernde Kirche") festgehalten worden.<p>Im Wesentlichen besteht diese zentrale Einsicht darin, dass der Mensch als unmittelbar vor Gott stehende Person verstanden wurde, deren Identität und Wert allein durch Gottes Anerkennung begründet ist. Diese Anerkennung wird durch die sogenannten "Exklusivpartikel" gekennzeichnet, sie geschieht von Gott "allein aus Gnade", sie wird vom Menschen "allein durch den Glauben" aufgegriffen und bleibt streng konzentriert "allein auf Jesus Christus" auf der Grundlage der biblischen Schriften, die "allein" die verbindliche Norm vorgeben.<p>Diese reformatorische Kernüberzeugung hatte weitreichende Konsequenzen, die direkt oder indirekt, manchmal beabsichtigt, aber oft auch ungewollt, die moderne westliche Kultur in allen Bereichen mitgeprägt haben. Einige sollen nun, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, kurz angesprochen werden: Die Kernbotschaft der Reformation, die Anerkennung des Menschen durch Gott (im theologischen Fachjargon als "Rechtfertigung" bezeichnet) hat bleibende Aktualität.<p>Auch wenn sich im Zeitalter fortschreitender Säkularisierung in Europa vielen Menschen die Frage nach Gott höchstens noch angesichts von Katastrophen im Sinne der Theodizee ("Wie kann Gott das zulassen?") stellen mag, stellt sich doch die Frage nach der Identität und Würde des Menschen in bleibender, ja vielleicht sogar zunehmender Schärfe.<p>

Rechtfertigungszwang

<p>Theologen wie Ulrich Körtner ("Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert", 2010) aber auch Autoren wie etwa Martin Walser ("Über Rechtfertigung. Eine Versuchung", 2012), weisen darauf hin, dass heute Menschen zunehmend unter den Druck geraten, sich selbst ständig rechtfertigen zu müssen. Das betrifft ihre Handlungen, ihre Lebensweise, aber auch - wie sich am Geschick von Menschen auf der Flucht zeigt - ihr Dasein insgesamt. Die "Tribunalisierung der modernen Lebenswelt" (so Ulrich Körtner) lässt in bedrängender Weise nach Gnade und Gnadenlosigkeit, nach einer Kultur der Barmherzigkeit und des Verzeihens fragen.<p>Diese Rechtfertigung, also die Anerkennung des Menschen, erfolgt unabhängig von natürlicher Ausstattung, gesellschaftlichem Status, individuellem Vermögen und auch religiöser Leistung und begründet daher die "Freiheit eines Christenmenschen", wie Martin Luther in seiner Schrift aus dem Jahr 1520 formuliert. Diese Freiheit verlangt nach der Selbstständigkeit des Menschen.<p>Als die evangelischen Stände beim Zweiten Reichstag von Speyer 1529 ihren Protest gegen die Umsetzung des Wormser Edikts einlegten - und seitdem auch als "Protestanten" bezeichnet werden - formulierten sie: "In Sachen Gottes Ehre und der Seligkeit belangend muss ein jeglicher für sich selber vor Gott stehen und Rechenschaft geben". Auch wenn in dieser "Protestation" streng genommen noch nicht die individuellen Rechte angesprochen waren, stellt sie doch einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu Glaubens- und Religionsfreiheit dar.<p>Zur Wahrnehmung dieser Selbstständigkeit ist Bildung zum mündigen Christsein unerlässlich. Um selbst Rechenschaft über den Glauben geben zu können, wurde die Bibel in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt, wodurch oft erstmalig Schriftsprachen entstanden, was die Entwicklung von Dichtung und Literatur in vielen Ländern erst ermöglichte und überall nachhaltig förderte. Ebenso essenziell waren die Schulgründungen, die an jedem Ort vorgesehen waren und für alle unabhängig von Geschlecht und Herkunft galten.<p>Die aus der Anerkennung von Gott folgende Freiheit des Menschen wird in Verantwortung gelebt. Luther hat das in "Von der Freiheit eines Christenmenschen" durch eine Doppelthese ausgedrückt, die nur auf den ersten Blick paradox erscheint: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Freiheit verwirklicht sich in der Übernahme von Verantwortung, in der Liebe zum Nächsten, die aus "fröhlichem Glauben" (Luther) und Dankbarkeit folgt.<p>

Dienst am Nächsten

<p>Dieses reformatorische Freiheitsverständnis steht daher in einer produktiven Spannung zum modernen Autonomiegedanken und begründet eine kritische Einstellung zur Moderne, die vor allem die unmenschlichen Folgen neuzeitlicher Rationalität auf den Gebieten von Ökonomie, Politik und Ökologie betrifft. Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind Anliegen aller christlichen Kirchen; für die evangelische Tradition folgen sie aus der reformatorischen Verbindung von Freiheit und Verantwortung.<p>Unmittelbare Folge des reformatorischen Freiheitsverständnisses als Dienst am Nächsten war die Neugestaltung des sozialen Lebens in der Gesellschaft. Die Sorge um das soziale Wohl wurde zur Aufgabe der Gesellschaft. Neben der Gründung von Schulen waren es die diakonischen Einrichtungen, deren Errichtung anzeigte, dass sich eine Kommune der Reformation angeschlossen hatte. Für die Kirche selbst war die Folge - vor allem durch die Überzeugung vom "Priestertum aller Getauften" -, dass sie ohne hierarchische Abstufung als Gemeinschaft verfasst wird. Letztlich führte das auch zur Anerkennung und Zulassung der Frauen für alle Funktionen in der evangelischen Kirche, die in Österreich 1965 eingeführt wurde.<p>Die freiheitsbegründende Anerkennung jeder Person hatte ihre Auswirkungen auf die Herausbildung moderner Grundrechte, insbesondere der Religions- und Gewissensfreiheit. In den späteren USA geschah dies unter direkter Bezugnahme auf religiöse Grundlegungen (z.B. in der "Virginia Declaration of Rights", 1776), in Europa hingegen durch die spannungsvolle Auseinandersetzung mit der Aufklärung ohne Rückbindung an Gott. Dabei darf die positive Rolle der Vertreter des "linken Flügels" der Reformation, also der Nachfahren von in Europa auch durch die Evangelischen ausgegrenzten und verfolgten Gruppen wie der "Täufer", nicht vergessen werden. Insgesamt scheint es offenkundig, dass die Ausbildung der Menschenrechte in einem, wenn auch indirekten, Wirkungszusammenhang mit der Reformation steht.<p>Eine Folge der Reformation war die durch die Konfessionalisierung vollzogene Spaltung der westeuropäischen Christenheit. Europa war genötigt, das Zusammenleben verschiedener, anfangs auch verfeindeter Kirchen zu ermöglichen, was letztlich über das Stadium der Toleranz zu wechselseitigem Respekt und gegenseitiger Anerkennung geführt hat. Dass heute, im Zeitalter der Ökumene, die Erinnerung an die Reformation sogar streckenweise gemeinsam von evangelischer und katholischer Kirche gestaltet wird, ist angesichts der belasteten Geschichte Grund zu Dankbarkeit und gibt Anlass zur Zuversicht, dass das Miteinander vertieft werden kann. Diesen Weg haben der Lutherische Weltbund und die römisch-katholische Kirche unter die Überschrift "Vom Konflikt zur Gemeinschaft" gestellt und damit eine Lerngeschichte bezeichnet, die auch beispielgebend für das Miteinander von Religionen insgesamt gelten kann.<p>Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 war noch vom Prinzip "Frieden durch Trennung" bestimmt und sah die freie Religionswahl nur für die Landesherren vor ("cuius regio, eius religio"). Das war zwar ein wichtiger Schritt, konnte aber keine Lösung auf Dauer sein. Erst die Herausbildung des religiös und weltanschaulich neutralen Verfassungsstaates schafft auf der Grundlage der allgemeinen Gültigkeit der Menschenrechte die Basis für ein Zusammenleben unterschiedlicher Wahrheitsansprüche unter den Bedingungen kultureller und religiöser Pluralität, wie sie heute für Europa kennzeichnend ist.<p>Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die klare Unterscheidung von Kirche und Staat. Keine politische Institution hat das Recht, auf den Glauben der Menschen zuzugreifen. Umgekehrt darf sich die Kirche nicht politischer Macht bedienen. Dies hat die Reformation an der Frage der Aufgaben der Bischöfe diskutiert, denn nicht wenige der Bischöfe des 16. Jahrhunderts waren zugleich weltliche Fürsten und der Anspruch der Kirche auf unmittelbares politisches Wirken gang und gäbe.<p>

Weltlich-Geistlich

<p>Dagegen hat etwa Luther seine Überzeugung von den beiden Regimenten Gottes, dem weltlichen und dem geistlichen, dem staatlichen und kirchlichen, gestellt. Beide sind aufeinander bezogen, haben aber verschiedene Aufgaben und sind in der Wahrnehmung ihrer je eigenen Aufgaben frei. Sowohl die religiöse Überhöhung des Staates als auch der politische Missbrauch von Religion sind zu verhindern. Kirchen und Religionsgemeinschaften sind nach diesem Verständnis keine direkten politischen Akteure, sie nehmen aber im Rahmen der Zivilgesellschaft an den politischen Auseinandersetzungen teil und bringen sich in diese ein.<p>

Religionsfreiheit

<p>Umgekehrt lebt der moderne Verfassungsstaat eine fördernde, positive Religionsfreiheit, die im Rahmen der geltenden Gesetze auf der Grundlage der Menschenrechte und unter Beachtung des Neutralitätsgebots und des Gleichheitssatzes den Beitrag der Religionen zum Zusammenleben ermöglicht, schätzt und fördert.<p>Vieles von dem, was als Impuls der Reformation angeführt wurde, hätte sich Martin Luther (wie die meisten der Reformatoren) bestimmt nicht vorstellen können, und man muss mit Sicherheit bezweifeln, dass er sie gut geheißen hätte. Ein Zusammenleben verschiedener Religionen etwa lag noch außerhalb seiner Denk- und Vorstellungsmöglichkeiten, dazu war er viel zu sehr seinen mittelalterlichen Wurzeln verhaftet und davon überzeugt, dass es zur Monokonfessionalität politischer Einheiten keine Alternative gab.<p>Luther war nicht "modern" und es wäre unangemessen, ihn zu einem Vorreiter der Moderne zu stilisieren. In mancher Hinsicht bleibt er fremd und befremdend, vor allem in seiner Einstellung zu Judentum und Islam, aber auch in der maßlosen Polemik gegen das Papsttum. Diese Einschätzung trifft mehr oder weniger auch auf die anderen Vertreter und Vertreterinnen der Reformation, aber auch des Humanismus zu. Es besteht kein Grund, die Zeit des Aufbruchs im 16. Jahrhundert zu glorifizieren oder die Beteiligten mit einem Heiligenschein zu versehen. Dennoch sind durch die Reformation Entwicklungen in Gang gesetzt worden, die den komplexen Transformationsprozess, der zur modernen Welt westlicher Prägung geführt hat, in wesentlichen Inhalten beeinflusst und inspiriert haben.<p>Wie geschehen Reformationen? Neben den für Veränderungen günstigen Rahmenbedingungen braucht es eine klar profilierte inhaltliche Ausrichtung und mutige Menschen, die sich nicht scheuen, für die eigene Überzeugung und Gewissensentscheidung einzustehen. Zeitgenössische Quellen berichten, Luther habe seine Weigerung des Widerrufs vor dem Kaiser auf dem Wormser Reichstag 1521 mit dem Ausspruch bekräftigt: "Ich kann nicht anderst, hie stehe ich, Gott helff mir, Amen."<p>Die Reformation zeigt, dass selbst von göttlichem Recht legitimierte Größen, wie es Staat und Kirche im 16. Jahrhundert gewesen sind, verändert und reformiert werden können. Heute leistet das reformatorische Erbe einen Beitrag für den Zusammenhalt der Gesellschaft und ein Miteinander in Vielfalt und macht Mut, sich dafür einzusetzen.<p>

Michael Bünker, geboren 1954, ist Theologe, Pfarrer und Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich und Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE).
Am 2. Februar spricht Bünker im Rahmen der "Wiener Vorlesungen".Sein Vortrag trägt den Titel"Impulse der Reformation für Kirche und Gesellschaft heute",anschließend führt Hubert Christian Ehalt ein Gespräch mit dem Referenten.
Donnerstag, 2. Februar 2017, 19.00 Uhr, Wiener Rathaus, Festsaal, Feststiege 1, 1., Lichtenfelsgasse 2.