Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es muss passiert sein, als ich mit dem Baum nach Hause kam. Ja, ich glaube, bis dahin lief alles gut bei unseren Vorbereitungen für das Fest. Marieke hatte zugestimmt, dass meine Mutter kommen dürfte. Dieses Zugeständnis fiel ihr schwer, obwohl meine Mutter eine herzensgute Frau ist. Und sie mag Marieke wirklich sehr. Doch irgendetwas ist da schief gelaufen zwischen den beiden und diese Liebe ist etwas einseitig ausgefallen. Ich meinerseits hatte mich bereiterklärt, das traditionelle Gänseessen am ersten Weihnachtsfeiertag nicht mit Kommentaren über den Vegetarismus im allgemeinen und die Vorzüge der fleischlosen Ernährung für den Stoffwechsel des Menschen im besonderen zu begleiten. Ich wusste, das würde mir schwerfallen. Aber was tut man nicht alles um des lieben Weihnachtsfriedens willen! Die Kinder machten sich nichts aus Gans. Aber Marieke mochte dieses weihnachtliche Ritual, den Bratenduft, das dampfende Rotkraut und die Knödel. Wahrscheinlich fühlte sie sich durch meine Ausführungen in den vergangenen Jahren wohl doch etwas gestört. In solchen Fragen ist sie manchmal ein bisschen empfindlich, finde ich.
Der Baum des Anstoßes
Als ich mit dem Baum nach Hause kam, herrschte Ruhe und Frieden. Marieke hatte sich hingelegt, die Kinder spielten in ihrem Zimmer. Sie hatten zwei Ritterarmeen aufgebaut, die kurz davor standen, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Sie bereiteten den Kampf so voller Inbrunst und Hingabe vor, dass Sie mich mit dem Baum gar nicht bemerkten. Ich verfrachtete ihn auf den Balkon.
Erst um drei kam Marieke aus dem Schlafzimmer. Sie wollte sofort den Baum sehen. "Im letzten Jahr war er mir ein wenig zu breit", sagte sie noch. Das gab meiner Stimmung einen heftigen Knacks. Woher kommt das, dass Frauen aber auch in allem das letzte Wort haben müssen und uns Männern bei geradezu nichts mehr vertrauen können? Gut, wir hatten einige Äste stutzen müssen. Aber ist das nicht etwa der Sinn des Weihnachtsbaumaufstellens? Einen Ast hier absägen, eine Spitze dort stutzen - das gehört nun mal dazu: "Wo bitteschön steht geschrieben, dass Bäume passgenau für unsere Wohnung wachsen müssen!" Leider dachte ich das nicht nur, sondern sagte es. Laut. Das muss in Mariekes Ohren etwas schnippisch geklungen haben. Und wie gesagt, sie ist etwas empfindlich. Dabei wollte ich sie doch nur auf die Realitäten hinweisen.
Also gut, vielleicht war meine Antwort ein wenig schnippisch. Mariekes Antwort will ich hier nicht wiedergeben. Das würde zukünftige Auseinandersetzungen mit ihr nur unnötig belasten. Fest steht: Ihr fiel eine höchst unfaire Antwort ein - auch Fairness ist nicht gerade Mariekes Stärke.
Im Kinderzimmer kämpften die verfeindeten Ritterheere unterdessen mit gehobener Lautstärke. Die Angreifer hatten den Rammbock in Stellung gebracht und eine ganze Batterie von mächtigen Steinschleudern. Die Verteidiger hielten mit Speeren, Schwertern und siedendem Öl dagegen. Am Ende würde der Ältere wieder einmal gewinnen, das war abzusehen. Im entscheidenden Augenblick würde er seinen kleinen Bruder mit den Worten "Dann bin ich eben nicht mehr dein Freund" gekonnt in die Knie zwingen.
Unterwanderung der Tradition
Ich hatte unterdessen wutschnaubend meine Jacke gepackt. Der Lärm im Kinderzimmer übertönte meine letzten Worte ebenso wie den Knall der zufallenden Wohnungstür. Ich ging dann erst einmal eine Runde um den nahen See, schaute den Enten zu und sah, wie die Kinder mit Stöcken auf das Eis einhackten, das sich am Rande des Gewässers gebildet hatte - und dachte nach. Wenn ich es recht bedachte, dann kam es in jedem Jahr in etwa zur gleichen Zeit, so ein oder zwei Tage vor dem Fest, zu solch einem Eklat. Im letzten Jahr war es um die Gans gegangen, die ich gekauft hatte, das wusste ich noch genau. Ich schaute auf die Uhr. Es war Zeit, meine Mutter vom Zug abzuholen.
"Junge, wie siehst du denn aus!", begrüßte sie mich und empfahl mir, doch öfter zeitiger ins Bett zu gehen. Ich schaute ein wenig gequält. Ich hatte ganz vergessen, wie anstrengend Mütter sein können! Ich lud die Geschenke für die Kinder in den Kofferraum, zwei riesengroße, bunt verpackte Kartons. Zubehör für die Ritterburg, so hatte Marieke es mit ihr vereinbart. Was ich da vor mir sah, wirkte eher wie ein regelrechter Erweiterungsbau. In den Kartons hatten sicherlich alle Ritter von Karl dem Großen Platz. Und die Ritter der Artusrunde noch dazu.
Auch Marieke hatte unterdessen nachgedacht. Ich sah es an ihrem scheuen Lächeln, als wir zur Tür hereinkamen. Sie wirkte auch deutlich ruhiger als zuletzt. Sie entschuldigte sich halbherzig bei mir und ich mich bei ihr. Jetzt, wo meine Mutter da war, mussten wir zusammenhalten, das war uns beiden klar.
Die Kinder mussten inzwischen einen wahren Vernichtungskampf geführt haben. Das Ritterheer lag zusammen mit dem Rammbock, den Burgteilen und den Schüsseln für das siedende Öl weit verstreut auf dem Fußboden herum. Doch seit die Oma da war, interessierten sie sich nur noch für sie. Besser gesagt, interessierten sie sich für die beiden Pakete, die sie mitgebracht hatte. Sie wollten sie unbedingt gleich auspacken. Sie schworen Stein und Bein, das sie diese Nacht nicht schlafen könnten, wenn sie nicht wüssten, was darin sei. Marieke rettete die Situation, indem sie vorschlug, doch den Weihnachtsbaum aufzustellen.
Mir verschlug es die Sprache! Seit ich mich entsinnen kann, wird in meiner Familie der Baum am Heiligen Abend aufgestellt, irgendwann zwischen Frühstück und Mittagessen. Aber doch nicht am Vortag, am Nachmittag des dreiundzwanzigsten! Ich sah mich schon mit meiner Frau, meiner Mutter und meinen Kindern unter dem leuchtenden Christbaum sitzen und Geschenke auspacken - einen Tag vor Heiligabend. Aber meine Proteste halfen mir nicht. Die Kinder waren so begeistert von der Idee, sprangen um mich herum und freuten sich auf den großen Spaß, den ihnen das Schmücken machen würde. Einen solch großen Spaß würde ich ihnen doch wohl nicht verderben wollen.
Wer braucht moderne Christbaumständer?
Ich warf Marieke noch einen ungehaltenen Blick zu. Strafe muss sein, fand ich. Dann machte ich mich auf den Weg in den Keller, um die Axt, die Säge und den Baumständer zu suchen. Ich weiß, es gibt da jetzt moderne Ständer, bei denen man nur an einem Seil ziehen muss und schon sitzt der Baum bombenfest und garantiert gerade in der Halterung. Ich halte nichts von derartigem modernen Firlefanz. Wo kommen wir denn da hin! Ein Mann muss doch wohl in der Lage sein, einen Christbaum fachgerecht zurechtzusägen und zu behauen.
Marieke findet meine Haltung in dieser Frage etwas antiquiert. Schon als ich im letzten Jahr den Baum mit einem Bindfaden an der Heizung festband - nur zur Sicherheit natürlich, die Fichte, die wir gekauft hatten, stand auch so wie eine Eins - da hatte sie das Gespräch auf diese neuartigen Baumständer gelenkt. Kann man das Selbstwertgefühl eines Mannes nachhaltiger beschädigen als mit solchen, angeblich wohlgemeinten Ratschlägen? Erst als ich frostig "Ich halte davon nichts!" sagte, hatte sie seinerzeit endlich Ruhe gegeben.
Erst beim Abendessen kamen Marieke und ich uns wieder näher. Meine Mutter unterhielt die Runde mit Erzählungen über ihre Nachbarschaft und welcher Ortsbewohner in letzter Zeit von welcher unheilbaren Krankheit heimgesucht und welcher einer solchen bereits erlegen war. Als sie die Details einer Darmspiegelung ihrer Nachbarin erläutern wollte, schritt ich beherzt ein. Ich warf ihr einen scharfen Blick zu und Marieke schaute ganz erleichtert über meinen Einsatz zu mir herüber.
Weihnachtsfrieden
Der Baum sah wirklich hübsch aus, mit seinen Kerzen und den Kugeln, die die Kinder selber aus Servietten und Tischtennisbällen gebastelt hatten. Die Kinder bestaunten den Weihnachtsbaum, wie wenn sie nie zuvor in ihrem Leben einen solchen geschmückten Baum zu Gesicht bekommen hätten. Ihre Augen leuchteten dabei so erwartungsvoll. Ich ahnte, wie das enden würde. Die Kinder bettelten und bettelten. Am Ende holte meine Mutter doch tatsächlich die beiden Kartons aus dem Besucherzimmer und überreichte sie den beiden. Es ist schon berührend, wie glücklich Kinder in diesem Alter sein können.
Zum Vorschein kamen einige Wehrtürme, zahlreiche Kanonen, sowie eine Art rollbare Armbrust, die an Seilen hängende Enterhaken verschießen konnte. Ich schaute recht ungläubig, weil ich solche Enterhaken nur aus Piratenfilmen kannte, nicht aber von den Rittern. Aber da muss ich wohl einmal mehr ein Opfer meiner von Hollywoodfilmen geprägten Geschichtskenntnisse geworden sein. Mein Ältester war etwas genervt, als ich ihm meine Bedenken mitteilte: "Klar hatten die auch solche Enterhaken. Wie sollten sie denn sonst auf so eine Burg kommen!", entgegnete er ein wenig herablassend.
Die Kinder spielten eine ganze Weile zufrieden mit den neuen Spielsachen. Zusammen mit den bereits vorhandenen Teilen ergaben sich ganz neue Möglichkeiten der Kriegsführung, eine Aussicht, die die beiden regelrecht in Euphorie versetzte. Es würde, da waren die beiden sich sicher, ein richtig gutes Weihnachtsfest werden.
Ich für meinen Teil war noch nicht so fest davon überzeugt wie meine Söhne. Vorsichtig legte ich einen Arm um Marieke, um zu testen, ob sie sich wieder vertragen wollte. Sie wollte. Mutter wischte sich eine Träne aus den Augen und sagte ganz leise: "Ach, wenn der Erwin das noch erleben könnte!" Wir schauten schweigend auf den Baum und freuten uns auf das morgige Fest. Geschenke gab es ja dann auch noch genug.
"Aber nächstes Jahr laden wir sie nicht wieder ein, ja?", flüsterte Marieke, als sie sich abends eng an mich schmiegte. Nichts schweißt ein Paar so sehr zusammen wie ein gemeinsamer Feind.