Geht's dem Börsel gut, geht's allen gut? - Höhere Löhne = mehr Konsum = mehr Wirtschaftswachstum. Ein Streitfall.
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Wien. Schon Henry Ford wusste es, Autos kaufen keine Autos. Wenn die Arbeiter gut verdienen, können sie sich ihren Ford leisten. Das steigert die Gewinne des Autokonzerns, der kann expandieren und neue Leute einstellen - eine positive Spirale nach oben. Umgelegt auf die Ökonomie heißt das: Kräftige Löhne bedeuten kräftige Nachfrage, bedeuten mehr Wirtschaftswachstum und Jobs.
Mehr als 100 Jahre, nachdem der erste Ford vom Fließband ging, ist das Thema aktueller denn je. Denn seit Ausbruch der großen Krise vor sechs Jahren sanken die Löhne in der Geldbörse, die sogenannten Reallöhne, oder stagnierten bestenfalls. Woher soll bitteschön die Nachfrage nach dem neuen Ford des 21. Jahrhunderts, nach der größeren Couch oder dem Wochenendtrip in die Therme kommen, wenn nicht über mehr Geld im Börsel? Fazit: Die Wirtschaft schwächelt, es braucht höhere Löhne.
Der wirtschaftsliberale Think Tank Agenda Austria warnt davor: "Überzogene Löhne zerstören Wachstum und Arbeitsplätze." Aus Sicht der Agenda kann eine Wirtschaftsflaute deswegen nicht mit höheren Löhnen überwunden werden, weil die Unternehmen a) die zu teuren Mitarbeiter durch Maschinen ersetzen; b) die Bevölkerung dann aus Angst vor Jobverlust spart anstatt zu konsumieren; c) ausländische Güter billiger und dadurch attraktiver werden; d) die Firmen wegen der gestiegenen Lohnkosten in letzter Konsequenz zusperren könnten, weil sie mit anderen im globalen Wettbewerb nicht mithalten können. Frei nach Ford: Auch andere Firmen bauen Autos.
"Wenn ich die Löhne verzehnfache, bekomme ich ein Problem. No, na", sagt der Ökonomie-Professor Engelbert Stockhammer an der Kingston University London, ein früheres Vorstandsmitglied der Globalisierungskritiker von Attac Austria. Als Antwort auf eine Flaute seien Lohnerhöhungen nur sehr bedingt geeignet, stimmt er in diesem Punkt der Agenda zu (auch wenn seine Antwort auf die Krise, nämlich eine expansive Fiskalpolitik von der Agenda kaum goutiert wird). Mittelfristig hält Stockhammer es für "gefährlich", sich zu stark auf die Lohnkosten der Firmen und das Investitionsklima zu konzentrieren.
Im Euro-Raum sei die Lohnquote seit den 1980er Jahren um zehn Prozentpunkte gesunken, was die Gesamtwirtschaft deutlich geschwächt, aber den Standort Europa nicht im selben Maße gestärkt habe. In den USA seien die Löhne ebenfalls über Jahre gefallen. Also hätten sich die Menschen massiv verschuldet, um ihren Lebensstandard zu halten - bis die Blase wegen dieses Ungleichgewichtes platzte.
Für Stockhammer ist die österreichische Praxis der Lohnerhöhungen mit Produktivitätswachstum und Inflation Vorbild für die Balance zwischen Börsel der Arbeiter und Konzernkasse. Auch die Agenda sagt: Löhne können ruhig um die Produktivität steigen, aber nicht darüber hinaus.
Der Unterschied: Die Agenda achtet mehr darauf, wie die Wirtschaft durch zu hohe Löhne gebremst wird als sie durch steigende Nachfrage profitiert. Denn aus ihrer Sicht schafft nur ein investitionsfreundliches Klima Wachstum, Arbeitsplätze und das Umfeld für gute Löhne. Stockhammer sagt: "Wenn die Löhne entscheidend wären für Investitionsentscheidungen, wären alle in Ungarn angesiedelt." Umgekehrt habe die Lohnzurückhaltung in Deutschland zwar zu Exportüberschüssen geführt, aber nicht zu mehr Investitionen.
Der Ökonom hat ausgerechnet, dass ein Prozentpunkt mehr Lohn die Konsumausgaben um 0,5 Prozentpunkte steigert, während die Investitionen nur um einen Zehntelprozentpunkt sinken. Weil 90 Prozent des europäischen Handels innerhalb der Union stattfänden, geht er von einem deutlich positiven Wachstumseffekt aus, sollte die Politik der "Lohnzurückhaltung" aufgegeben werden. "Langfristig kann Europa nicht über Löhne mit anderen Erdteilen konkurrenzfähig sein. Wenn man dieses Spiel spielt, endet man bei chinesischen Löhnen."
Die Agenda Austria ist weniger entspannt: "Lohnzurückhaltung kann möglicherweise nur das Schlimmste verhindern und dafür sorgen, dass der durch technologischen Fortschritt, Produktivitätsverlagerung, stärkere Konkurrenz durch Ost- und Südostasien verursachte Beschäftigungsumbau nicht noch drastischer verläuft."