Was in Teilen Ostösterreichs "Wörth" heißt, das bezeichnet in Norddeutschland "Werth" oder "Werder": Ein Land zwischen Flüssen, Flussinsel, später auch Städtchen am Wasser.
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Wo findet das größte Volksfest in Deutschland statt? Den meisten wird spontan "München, Oktoberfest" einfallen. Bei der Frage nach dem zweitgrößten hingegen werden einige ins Stocken kommen. Es findet unweit von Berlin statt - und zwar just in diesen Tagen zum 129. Mal: Das "Baumblütenfest" auf Werder an (besser: in) der Havel. Die Besucherzahl - gut eine halbe Million in neun Tagen - wird nur noch von den Myriaden Obstbäumen in ihren wolkigen Blütenkleidern überboten. Ein unüberblickbares Meer weißer, rosafarbener und roter Blüten, das einen in eine Märchenwelt versetzt.
Hier in Werder zeigt sich die norddeutsche Tiefebene von ihrer schönsten Seite: Das seichte, dafür aber umso breitere Band der Havel umspült das verträumte Inselstädtchen ebenso wie der Schwielowsee, der Glindower See, der Große Plessower See und der Große Zernsee. Aus der Luft betrachtet scheint es, als trieben die weiten Obstplantagen und die gebückten Häuser traditionsreicher Obstzüchter-Dynastien auf einem blausilbrig schimmernden Spiegel.
Ausgehend vom nahen Kloster Lehnin brachten Zisterzienser im 13. Jahrhundert den Weinbau nach Werder. Später kam der Obstanbau hinzu, gleichfalls inspiriert von den Lehniner Mönchen. Mitte des 19. Jahrhunderts blühte die Branche dank neuer Transportmöglichkeiten per Schiff nach Berlin auf.
Der Obstkönig Wilhelm Wils wollte mehr Berliner in die Region locken und nebenbei sollten Landwirte, die aus nicht verkauftem Obst Wein hergestellt hatten, etwas dazu verdienen können. Das Baumblütenfest ward erfunden. Am 10. Mai 1879 rollte der erste Festzug aus Berlin an. Zu DDR-Zeiten eher misstrauisch beäugt, entwickelte es sich nach der Wende zu einer der größten Volksbelustigungen. In Spitzenzeiten zählt man über 800 000 Besucher.
Christine Berger gründete vor zehn Jahren einen "Frucht-Erlebnis-Garten", der mittlerweile zu einer touristischen Attraktion geworden ist. Hier entstanden in den letzten Jahren mehrere Hofläden, eine Orangerie mit Restaurant und Café sowie ein kleiner Naturspielplatz. Die Kinder können dort Klänge und Düfte der Natur erleben und erraten. Frau Bergers Spezialität sind Kreationen aus Sanddorn: Marmeladen, Gelees, Bonbons, Spirituosen, Liköre und sogar Weine.
Speziell für das Baumblütenfest entwickelt sie in jedem Jahr eine neue Weinsorte, heuer einen Quittenwein. "Die Quitte hat einen frischen, leicht säuerlichen Geschmack - das passt gut in den Frühling", sagt sie.
Etwas abseits vom großen Trubel lässt sich der Wein am schönsten unter den blühenden Bäumen der Plantagen genießen. Doch Vorsicht: Obstweine haben´s faustdick hinter den Ohren! Geschmacklich ein Kracherl, aber alkoholisch ein Kracher.
Wer die Warnungen missachtet, dem sei zum Schluss ein Bußgang in die Heilig-Geist-Kirche empfohlen. Dort befindet sich das frühbarocke Gemälde "Christus als Apotheker", das Theodor Fontane so beschrieb: "Christus, in rotem Gewande, steht an einem Dispensiertisch, eine Apothekerwaage in der Hand. Vor ihm, wohlgeordnet, stehen acht Büchsen, die auf ihren Schildern folgende Inschriften tragen: Gnade, Hilfe, Liebe, Geduld, Friede, Beständigkeit, Hoffnung, Glauben. Die Büchse mit dem Glauben ist die weitaus größte; in jeder einzelnen steckt ein Löffel. In Front der Büchsen liegt ein geöffneter Sack mit Kreuzwurz. Aus ihm hat Christus soeben eine Handvoll genommen, um die Waage, in deren einer Schale die Schuld liegt, wieder in Balance zu bringen."
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