Prüfung beginnt am 20. Oktober. | Politische Schatten über Gesprächen. | Brüssel. Nach der Spannung und Hektik bis zur Eröffnungs-Zeremonie der Türkei-Verhandlungen in der Nacht auf Dienstag beginnt der mühsame Alltag der Beitrittsverhandlungen. Es stünden nun "harte aber faire Gespräche" bevor, erklärte Erweiterungskommissar Olli Rehn gestern, Dienstag.
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Weniger Verhandlungen als zähe, sehr technische Arbeiten warten vorerst auf die Beamten der EU-Kommission. Im Zuge des so genannten Screening muss der gesamte türkische Gesetzesbestand auf seine Vereinbarkeit mit dem gut 80.000 Seiten umfassenden Rechtsbestand der EU durchleuchtet werden. Dabei orientieren sich die Prüfer an den 35 für die Türkei festgelegten Verhandlungskapiteln.
Wissenschaft zuerst
Ein Datum für den Start steht bereits fest: Am 20. Oktober wird Rehn mit einem Team nach Ankara reisen und sich mit dem türkischen Außenminister Abdullah Gül und weiteren Spitzenpolitikern des Kandidatenlandes treffen. Traditionell beginnt die Durchforstung der Gesetze mit wenig kontroversiellen Themengebieten. "Wissenschaft und Forschung" sowie "Bildung und Kultur" seien die ersten beiden Kapitel, sagte Rehn.
Das Screening sämtlicher türkischer Rechtsakte dauere "mindestens bis Ende 2006", hieß es in Diplomatenkreisen. Sobald aber die Prüfung aller für ein Kapitel relevanten Gesetze abgeschlossen ist, können die Verhandlungen darüber eröffnet werden. Dazu wird im Fall der Türkei erstmals ein einstimmiger Beschluss aller EU-Mitgliedsstaaten benötigt - ebenso wie für den Abschluss eines jeden Kapitels. Dazwischen muss Ankara seine Gesetze in enger Abstimmung mit den europäischen Behörden an das EU-Recht anpassen. Dieser Vorgang sind die eigentlichen Verhandlungen.
Es gebe Bestrebungen der britischen Ratspräsidentschaft noch dieses Jahr das erste Kapitel zu starten, sagte ein Diplomat. Außenminister Gül will heuer sogar noch ein oder zwei Kapitel abschließen. Dem werden in Brüssel jedoch kaum Chancen eingeräumt.
Problemfall Zypern
Vielmehr könnten auch an sich unumstrittene Passagen Schwierigkeiten bereiten, wenn sie von politischen Problemen überschattet werden. Vor allem zwei Pulverfässer könnten jederzeit wieder hochgehen: Die bisher von der Türkei verweigerte Umsetzung der erweiterten Zollunion mit dem EU-Staat Zypern und dessen Anerkennung durch Ankara. Zweiteres hatte Gül unmittelbar nach dem feierlichen Verhandlungsbeginn erneut ausgeschlossen.
Auch gegen die Öffnung der türkischen Häfen für zypriotische Schiffe wehrte er sich bisher strikt. Dabei ist gerade die Ratifizierung der Zollunion die "rote Linie" für die EU - und von der Türkei anzuwenden. Bereits nächstes Jahr wird die Kommission einen Fortschrittsbericht dazu vorlegen. Davon hängt die "Eröffnung relevanter Kapitel" ab. Welches Kapitel relevant ist, kann wegen der erforderlichen Einstimmigkeit auch ein einziger EU-Inselstaat entscheiden.
Auch vor dem Start der Beitrittsgespräche hatte allein Österreich das Verhandlungsmandat fast 30 Stunden lang blockiert. Ratspräsident Jack Straw musste zu einem diplomatischen Trick greifen. "Wir haben die Frist 3. Oktober eingehalten, weil ich zu sprechen begonnen habe, bevor es Mitternacht im Vereinten Königreich war", sagte Straw kurz vor ein Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit. Nach der späten Einigung war Gül erst um halb ein Uhr früh in Luxemburg gelandet.