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Nach der Schlacht ist vor dem Krieg

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

Bei den Einwanderungsgesetzen dürfte Obama wieder auf Granit beißen.


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Washington. In der Mall nichts Neues frühmorgens, die Jogger rennen ihrer Wege, die Polizisten schenken einem misstrauische Blicke und die ganz Fleißigen sind schon auf dem Weg zur Arbeit in frisch gewichsten Schuhen, mit unauffälligen Krawatten und in den Gesichtern den Blick von tausend Stunden Leerlauf. Washington, um sechs Uhr morgens, an einem Wochentag im Frühherbst; siebeneinhalb Stunden, nachdem sie das große Feuer gelöscht haben, das Amerika und mit ihm die Weltwirtschaft in den Abgrund zu treiben drohte. Fast ist man überrascht, steht ja noch alles. Das Kapitol, das Weiße Haus, die Ministerien, die Kunst- und Geschichtsmuseen und die Monumente zu Ehren der Kriegsgefallenen und der bedeutendsten politischen Führer. Thomas Jefferson schaut streng auf die Bucht hinaus, Abraham Lincoln nachdenklich von seinem steinernen Stuhl, Franklin D. Roosevelt entspannt aus seinem bronzenen Rollstuhl, und über ihnen setzen die ersten Morgenmaschinen zur Landung am Ronald Reagan National Airport an.

Irgendwie beruhigend, alles das. 16 Tage lang hatte sich die US-Regierung für geschlossen erklärt. Zwei Wochen und zwei Tage hatten Amerika und der Rest der Welt vor dem großen Krach gezittert. Und jetzt? Die Schlacht ist geschlagen, Sieger und Verlierer stehen fest und . . . alles wie immer, irgendwie. Auch wenn sich die Straßen der Hauptstadt der USA mit fortschreitender Stunde mit immer mehr Menschen füllen: An Tagen wie diesen, dem ersten, für den wieder der Normalbetrieb verordnet wurde, ohne Barrikaden, ohne zusätzliche, teils radikale Sicherheitsmaßnahmen, bekommt man ein Gefühl dafür, was (vor allem konservative) Abgeordnete aus den Bundesstaaten meinen, wenn sie über ihre Erfahrungen von der Arbeit im District of Columbia erzählen: Von der "Abgehobenheit der politischen Klasse" ist da verlässlich die Rede, von der "künstlichen Welt", dem "Mikrokosmos Washington, der mit dem Leben der Bürger nichts zu tun hat" und so weiter und so fort.

Aber nur weil es jene sagen, die das einfache und oft rückwärtsgewandte Leben in der Provinz fast schon kultisch vor sich hertragen, wird es dadurch nicht zwangsläufig weniger wahr. Wer in einem Land lebt, in dem er, egal, wo er wohnt, maximal einen halben Tag in die Hauptstadt braucht, kann sich das wahrscheinlich schwer vorstellen. Für die Mehrheit der Amerikaner ist es der Normalzustand. Washingtons einzige Attraktion besteht gestern wie heute einzig in seiner Eigenschaft als Regierungssitz. Die Stadt lebt, schläft, atmet und schwitzt Politik - aus Mangel an Alternativen.

Prolongierter Stillstand

In jeder Bar, in jedem Restaurant, in denen der müde Spaziergeher einkehrt, läuft irgendwo mindestens ein Fernseher, auf dem einen die professionellen Kommentatoren erklären, wo’s ab jetzt langgehen wird. Oder nicht. Jeder Schritt des Präsidenten, jeder Gesichtsausdruck seines Gegenspielers John Boehner, jeder Halbsatz des Tea-Party-Lieblings Ted Cruz und jeder ganze von Senator Mitch McConnell aus den vergangenen drei Wochen werden analysiert, seziert, in seine Einzelteile zerlegt. Und am Ende, je nach politischer Coleur - ein großer Vorteil in den USA: Nachdem die Fronten zwischen links und rechts derart klar sind, weiß man als Zuschauer immer sofort, wo der jeweilige Analyst steht -, folgt ein Urteil: Daumen hoch, Daumen runter.

Auch wenn sich die Republikaner angesichts der nächsten Schuldenlimit-Deadline Anfang Februar wahrscheinlich nicht mehr trauen werden, wieder aufs Ganze zu gehen, zeichnen sich dennoch drei Entwicklungen ab, die der politischen Logik der jeweiligen Player folgen. Erstens: Wenn es um die nächsten anstehenden Großprojekte geht, die Obama in seiner 2016 auslaufenden Amtszeit noch erledigt wissen möchte - allen voran eine tiefgreifende Reform der Immigrationsgesetze -, dürfte er damit nach altbekanntem Muster auf Granit beißen.

Die Republikaner werden schon allein aus Eigeninteresse - farbige Amerikaner, egal ob schwarz oder braun, haben sie, so viel lässt sich getrost sagen, auf Jahre verprellt - alles Menschenmögliche tun, um jedes Gesetz zu vereiteln, das Minderheiten und ihren Angehörigen dies- wie jenseits der Südgrenze der USA das Leben (und das Wählen) leichter macht. Zweitens: Nachdem es sich auch bei anderen Streitpunkten - der Frage etwa, wie viel offene und versteckte Subventionen amerikanische Bauern künftig vom Staat bekommen und welche Maßnahmen als nötig erachtet werden, um die Wirtschaft anzukurbeln - nach wie vor spießt und 2014 Kongresswahlen anstehen, wird sich auch in diesen Punkten am Stillstand nichts ändern.

Ergo, drittens: Was von Obama bleiben wird - außer der nicht zu unterschätzenden Tatsache, dass sich künftig Millionen arme Amerikaner zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Krankenversicherung leisten können -, hängt vom Ausgang dieser "Midterms" aus. Die Chancen seiner Partei, die Mehrheit im Repräsentantenhaus zurückzugewinnen (die sie während der ersten zwei Jahre seiner Amtszeit innehatte), hängt paradoxerweise auch davon ab, wie viele Tea-Party-Kandidaten sich bei den jeweiligen republikanischen Vorwahlen gegen relativ moderate durchsetzen werden. So steht etwa niemand Geringerer als der republikanische Minderheitsführer im Senat, Mitch McConnell, höchstselbst auf der Abschussliste der erzkonservativen Splittergruppe und ihrer finanziell potenten Geldgeber.

Stimmen der Vernunft

Es gilt als offenes Geheimnis in Washington, dass sich die Obama-Berater über jeden neuen Ted Cruz freuen, Motto: Je irrationaler die Republikaner, umso höher die Chancen für demokratische Kandidaten, sich als Stimmen der Vernunft verkaufen zu können. Fazit: alles wie immer, irgendwie. Die Schlacht ist geschlagen. Es lebe der Krieg, in der Hauptstadt und auf dem Land.