Vor 100 Jahren stürzte die Oktoberrevolution Russland ins Chaos. Das Gedenken an die Machtergreifung Lenins, die jahrzehntelang pompös gefeiert wurde, ist für den Kreml, der Revolutionen fürchtet, heute vor allem eine Peinlichkeit.
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St. Petersburg/Moskau. Das Ereignis, das die Welt veränderte und dem 20. Jahrhundert seinen Stempel aufdrückte, begann denkbar unspektakulär. In der Nacht vom 7. auf den 8. November 1917 drangen Rotgardisten in Petrograd, dem ehemaligen St. Petersburg, in das Winterpalais des abgesetzten Zaren ein und nahmen die Regierung gefangen. Ein paar Schüsse fielen - viele waren es nicht. Gegenwehr gab es kaum. Die Bolschewiki des radikalen Revolutionärs Wladimir Illjitsch Lenin machten sich das Chaos im Land und die schwindende Autorität der Regierung zunutze. Die Macht lag vor ihren Füßen. Sie brauchten sie nur zu ergreifen. Und sie ergriffen sie.
Kamera war an diesem Oktobertag (nach altem, julianischen Kalender) vor hundert Jahren allerdings keine dabei. Die dramatischen Bilder, mit denen Generationen von Sowjetbürgern aufwuchsen, der Sturm tausender heldenhafter Rotgardisten Richtung Winterpalais, der mutige Kampf gegen die dort stationierten Truppen - sie sind eine Fiktion, eine filmische Nachstellung aus dem Jahr 1920, als die siegreichen Bolschewiki begannen, ihre eigenen Legende zu stricken und die Revolution zu vermarkten. Noch heute, 26 Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion, ist das Land voll mit Relikten aus dieser Zeit: Die Leninstatuen, in der der Mann mit der Kappe in der immergleichen Pose des Visionärs die Hand ausstreckt. Die kräftigen Arbeiter und heldenhaften Kolchosbäuerinnen. Die siegreichen Krieger im "Großen Vaterländischen Krieg", den Adolf Hitler der Sowjetunion aufzwang. Und nicht zuletzt der ehemalige Heilige selbst, Lenin, dessen Leichnam immer noch im Mausoleum vor der Kremlmauer liegt. Rund 200.000 Euro kostet die Erhaltung des einbalsamierten Revolutionärs den russischen Staat pro Jahr. Forderungen, ihn endlich zu begraben wie seinen Nachfolger Stalin, gibt es immer wieder. Doch der grausame Revolutionär, der in seinen Sendbriefen seine Mitrevolutionäre dazu aufrief, "Drückeberger", Prostituierte, Ex-Offiziere, Bauern, "Reiche und Blutsauger" zu erschießen oder aufzuhängen ("unbedingt aufhängen, damit es das Volk sieht!"), ist in Russland immer noch ein Politikum. Rund die Hälfte der Bevölkerung kann ihm und seinem Erbe positive Seiten abgewinnen, die andere Hälfte sieht ihn kritisch. Manche, wie Metropolit Hilarion, der Sprecher der Russisch-Orthodoxen Kirche, sehen in ihm einen Mann, "der dem Teufel diente".
Unter solchen Umständen ist es für die russische Führung schwierig, den richtigen Ton zu treffen. Es scheint, als würde Präsident Wladimir Putin das hundertjährige Revolutionsjubiläum am liebsten ereignislos verstreichen lassen, um keinen Teil der Bevölkerung gegen sich aufzubringen und generell Unruhe im Land zu vermeiden. Die Verantwortung für die Veranstaltungen zur Revolution ließ er schon vor einem Jahr an die "Russische historische Gesellschaft" auslagern, einen staatsnahen Verein. Auf das Jubiläum angesprochen, erklärte ein Sprecher Putins vor kurzem schulterzuckend: "Warum sollte man das feiern?"
"Revolutionsphobie"
Das heutige Russland tut sich schwer mit Revolutionen. Der Arabische Frühling, der vor allem eine Stärkung islamistischer Kräfte brachte, vor allem aber die prowestlichen Revolutionen in der unmittelbaren Nachbarschaft - die georgische Rosenrevolution 2003, die Orange Revolution in der Ukraine 2004, schließlich der "Euromaidan" in Kiew 2013/14 - haben in Moskau eine "Revolutionsphobie" ausgelöst, konstatiert der "Spiegel". Der oberste Glaubenssatz des Putinismus, so das deutsche Magazin, sei: "Wir sind das Gegenteil von Revolution."
Es ist die Angst vor einem möglichen Umsturz, die die Politik des Kremls wesentlich antreibt. Das kremlnahe "Russische Institut für strategische Forschungen" (RISI) wittert in seinen Analysen stets den Westen als Urheber aller Revolutionen in und um Russland. Das gilt laut einem Film des konservativen Instituts auch für die demokratische Revolution im Februar 2017, die den Zaren zu Fall gebracht hatte. Sie habe, so lautet der Vorwurf, den Staat geschwächt und Russlands (auch damals schon: westlichen) Feinden in die Hände gespielt. Ob die darauffolgende Oktoberrevolution diesen Staat wiederherstellte oder ob sie ihm endgültig das Rückgrat brach, ist in Russland bis heute ein Talkshowthema. Anhänger des Zaren und Stalin-Verehrer treffen sich in dabei meist in einem Punkt: Der unbedingten Loyalität zum starken, autoritär geprägten Staat, der in Russlands Geschichte stets die Oberhand über der Gesellschaft behalten hatte. Für den bürgerlichen Liberalismus fehlen in Russland bis heute die Grundlagen. Es war die Oktoberrevolution, die die ersten Ansätze in diese Richtung dem Erdboden gleichmachte.
Es ist ausgerechnet Putin, selbst ein erklärter Anhänger eines starken Staates, der sich als Vorbild eine Gestalt ausgesucht hat, die auch schon liberalen Reformern wie Gorbatschow-Berater Alexander Jakowlew imponierte: Pjotr Stolypin. Er war von 1906 bis 1911 der wohl fähigste Premierminister des russischen Zaren. Der energische Mann unterfertigte in seiner turbulenten Amtszeit - allein 1906 verübten Nihilisten und Umstürzler 1400 Morde - 5500 Todesurteile, ließ das Parlament, die Duma, mehrmals auseinanderjagen und schleuderte seinen Gegnern ein heute von Putins Anhängern oft zitiertes Wort ins Gesicht: "Sie wollen große Erschütterungen, wir wollen ein großes Russland!"
Vorbild Stolypin
Doch bekannt geworden ist Stolypin vor allem als Agrarreformer, der die russischen Bauern behutsam aus der tradierten Abhängigkeit der Dorfgemeinschaft führte und ihnen erstmals privaten Grundbesitz ermöglichte. Die Reformen hatten beträchtlichen Erfolg - sie kamen allerdings zu spät. Putin sieht in ihm einen autoritären Modernisierer, einen, der Revolutionen ablehnte und für einen starken Staat eintrat. Er hat, als er selbst Premier war, Stolypins Standbild vor dem Regierungssitz aufstellen lassen.
Mit dem Gedenken an die Revolution tut sich Putin schwerer. Und das, obwohl er als Mann des Sowjet-Geheimdiensts KGB ein "Tschekist" war - auch die russischen Geheimdienstler nennen sich noch heute so wie Lenins Geheimpolizisten. Er spricht von einem "untrennbaren, schwierigen Teil unserer Geschichte". Und ruft dazu auf, Polemiken zu unterlassen und sich zu versöhnen - im Dienste des Ganzen. Eine neue Revolution in nicht in Putins Sinn. Der Kreml wird sie mit allen Mitteln verhindern.