Die denkwürdigen Freuden des Alterns. - Eine poetisch-philosophische Erkundung.
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In einer Zeit, die es insgesamt nicht so gut mit mir meinte, wie ich es verdient hätte, beschloss ich, einen Roman zu schreiben, der "Die Altenplage" heißen sollte. Ich hatte mich über einige ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger geärgert, die, dachte ich damals, nur die Speerspitze einer Bewegung waren, in die wir uns, früher oder später, alle mit einreihen würden.
Ich nicht, dachte ich noch, ich war ja jung, was aber, zugegeben, schon damals nicht mehr stimmte. Egal; der Roman musste geschrieben werden, obwohl niemand, wirklich niemand, nach ihm verlangte. Es ging dann auch gut los; dem Eingangsmotto, das ich dem Werk voransetzte, war bereits zu entnehmen, was in mir gärte: "Wer je von einem Rollator angefahren wurde, weiß, wie sich der Schmerz anfühlt, der vor dem Ende kommt. Ich hatte überlebt, aber nicht richtig, so dass ich mich, noch immer keiner Schuld bewusst, davonmachen musste. Drohend aufgereckt die Krücken; hinter mir, wie eine morsche Wand, das Gebrabbel, es ließ sich nicht beruhigen. Die Führerin des SEK Senilia, für ihr Alter noch unangenehm scharf und wach im Geist, hätte mir am liebsten die Stützstrumpfschlinge um den Hals gelegt. Genau den aber musste ich retten, man hängt am Leben, auch wenn es mit der Zeit merklich an Reiz verliert. Noch ehe sie anhaltend tätlich werden konnten gegen mich, war ich auf der Flucht, die sich anfangs gut anließ, dann aber ins Stocken geriet: Vom komfortablen Vorsprung, den ich hatte, blieb nicht viel übrig. An einer deutschen Autobahnraststätte stehend, nun schon leicht gebeugt, dachte ich: Sie werden dich kriegen."
Selbstsuche
Danach jedoch erlahmte mein Elan, und ich wurde, auch das gab zur Besorgnis Anlass, versöhnlicher. So wollte ich aus dem Roman, der kein Roman mehr sein sollte, ein Sachbuch machen, in dem sich erzählerische Elemente mit klugen Überlegungen zusammenfanden, an denen die Leser, die es noch nicht gab, ihre helle Freude hatten. Der Titel, den ich mir dafür ausdachte, lautete "Nachspielzeit. Die denkwürdigen Freuden des Alters" und ließ etwas von jenem merkwürdigen Optimismus anklingen, der mir, vorübergehend, zusetzte. Letztlich bestand mein Sachbuch aber nur aus einem Kapitel, das ich heute noch wertschätze. Es geht so:
"Ich bin, aber wir haben uns nicht. Also werden wir." Diesen einleuchtenden Satz des Philosophen Ernst Bloch habe ich lange beherzigt, beherzige ihn, auf meine Art, immer noch, aber dazwischen lag eine knapp bemessene Zeit, in der ich mich auf die Suche nach mir selbst begab und dabei unwesentlich älter wurde, was für mich zum Problem wurde. Für andere jedoch nicht, wie es schien, die mir gelegentlich sogar meinen Tag mit Bemerkungen wie "Sie haben sich aber gut gehalten!" aufhellten. Noch besser war, wenn beim Bäcker eine neben mir stehende Dame reiferen Jahrgangs zu der Verkäuferin sagte: "Der junge Mann war vor mir dran!"
Ich schaute mich um, ungläubig, aber kein Zweifel, ich musste gemeint sein, denn es war kein anderer da. Das Alter machte mir zu schaffen, ich wollte es, wie die meisten, nur nicht so recht wahrhaben. Als ich einen runden Geburtstag zu begehen hatte, bat ich darum, von Beileidsbekundungen abzusehen. Ich zog mich eine Woche auf eine Nordseeinsel zurück, wo ich, sagte mir die alte Frau Erinnerung, als junger Mann einigermaßen glücklich gewesen war.
Lang, lang ist’s her, dachte ich, lief den menschenleeren Strand ab und hatte dabei den jungen Mann von damals an meiner Seite, der kaum mehr war als eine verhuschte Gestalt, auf die sich eine bekannte Redewendung anwenden ließ: Kannst du vergessen. Heute weiß ich, dass späte Selbstsuche die besondere Gunst der Umstände braucht, eine fein abgestimmte Empfänglichkeit, die auch den Kreisgang in Kauf nimmt und sich vom Alter nicht mehr beeindrucken lässt als unbedingt nötig. Wenn alles stimmt, kann man sich selbst finden - eine kurzfristig beglückende, fast zeitlos anmutende Gewissheit, in der der Verzicht so schwer wiegt wie das Gefühl, angekommen zu sein. Dass man bei alledem nicht jünger wird, tut nichts zur Sache - es kommt, wie bei so vielen Dingen des Lebens, auf den Blickwinkel an.
Beim Gerontologen
Zwei, drei Jahre später stand ich an einem mäßig schönen Frühlingstag vor einem jener fabelhaften Anwesen, die in Hamburg hoch über dem Elbufer liegen und auf Geheimnis und Wohlstand verweisen. Draußen, an der Grundstücksmauer neben einer großen, schmiedeeisernen Tür, die wirkte, als läge sie in der Einsichtsschneise eines verborgenen Beobachters, befand sich ein Schild: Dr. Emile Emeyer, Gerontologe. Beratung - Therapie - Validation. Darunter in deutlich kleinerer, etwas verschämter Schrift: Selbstzahler. Ich blieb stehen, überlegte, schaute zum Himmel, es sah nach Regen aus. Die Tür, die mehr ein Tor war, stand einen Spalt weit auf; ich ging hinein.
Das war mein Glück oder mein Fehler, wie man’s nimmt. Durch einen parkähnlichen Garten mit gebeugten, leise seufzenden Bäumen ging ich, es war wie in einem Erkenntnismärchen. Kein Mensch weit und breit, auch kein Hund, der anschlug; selbst die Vögel waren hier auf andächtige Ruhe bedacht. Drinnen im Haus, auch dort stand die Tür einen Spalt weit offen, ging ich über eine teppichbewehrte Treppe in den ersten Stock. Ich betrat einen als Wartezimmer ausgewiesenen Raum, der schon deshalb auffällig war, weil sich dort kein Mensch aufhielt und statt der angegilbten Lesemappen-Illustrierten, die man aus sonstigen Praxisräumen kennt, gelbe Reclam-Heftchen auf dem Tisch lagen, allesamt philosophische Titel, die mir, das sei zu meiner Ehrenrettung gesagt, mehr oder weniger bekannt vorkamen.
Ansonsten aber war ich allein, allein mit den Geistesgrößen und weiteren Büchern, die an der Wand in Regalen untergebracht waren. Ich setzte mich in einen der schweren Ledersessel, die herumstanden; eigentlich sollte ich lieber gehen, dachte ich noch, aber da war es zu spät. Der Hausherr stand vor mir, Emile Emeyer, den ich, falls ich weiterhin Glück habe und es mir nicht so ergeht wie ihm, in diesem Leben nicht mehr vergessen werde. Er sah so aus, wie man sich, einem bewährten Klischee folgend, den verdienten Philosophen vorstellt: Graues, reichlich fallendes Haupthaar schmückte einen massiven Kopf unschätzbaren Alters; er spähte durch eine randlose Brille, trug braune Cordhosen und eine feuerrote Weste, am Kinn wuchs ihm ein kleiner Spitzbart, den ich auf Anhieb vollkommen lächerlich fand. "Entschuldigen Sie", sagte ich, "ich glaube, ich bin versehentlich in Ihr eindrucksvolles Haus geraten. Es ist wohl besser, wenn ich wieder gehe."
"Nichts geschieht versehentlich", sagte er und lächelte. "Und alt genug, um zu bleiben, sind Sie allemal!" Frechheit. Was sollte das denn heißen?
Seine Stimme indes hatte es in sich, ich hatte dergleichen noch nicht gehört. Einschmeichelnd klang sie, dunkel, ja, so albern es sich anhört: fast ein wenig verführerisch. Der Mann hätte aus einem Telefonbuch vorlesen können, und es wäre wie eine behutsame, weit nach innen reichende Anzüglichkeit gewesen. Er gab mir die Hand. "Emile Emeyer", sagte er, "offiziell bin ich Gerontologe, in Wahrheit aber Philosoph, und als solcher betreibe ich diese Praxis."
"Eine Goldgrube, nehme ich an", sagte ich.
"Eher ein Geheimtipp. Wenn ich ehrlich sein soll: Sie sind der erste Klient."
"Seit wann?"
"Seit Wochen."
Diese Antwort war nicht nur entwaffnend, sie überzeugte mich. Ich blieb. Warum, wusste ich damals nicht, es war eine spontane Entscheidung, die ihre Richtigkeit hatte. Emeyer führte mich in sein Sprechzimmer, das zugleich sein Wohnzimmer war. Wir traten hinaus auf den Balkon. Der verwunschene Garten ging hinter dem Haus weiter, senkte sich unmerklich ab; über alte Baumwipfel hinweg sah man einen freigeschlagenen Himmel und den glitzernden Strom. "Für das, dass Ihnen die Leute nicht gerade die Bude einrennen und Sie mit den Nöten anderer vermutlich nur kärglichste Einkünfte erzielen, wohnen Sie einigermaßen privilegiert", sagte ich. "Respekt."
"Ich habe geerbt", erklärte er. "Auf den gewöhnlichen Verdienst bin ich nicht angewiesen."
"Schön für Sie. Das hat man selten."
Er verwickelte mich dann in ein Gespräch. Geschickt machte er das, denn eigentlich wollte ich ja längst wieder gegangen sein. Er aber fragte nach. "Erzählen Sie mir, wer Sie sind", sagte er. "Ich höre Ihnen zu. Bedingungslos."
"Später", sagte ich. "Später vielleicht".
Verlieren und Finden
Natürlich hätte ich ihm aus meinem Leben berichten können, aber in meinem Leben überwiegen die unwichtigen Ereignisse, warum soll es mir da besser ergehen als anderen. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass mir die eigene Person im Erzählen abhanden kam. Sie duckte sich unter den Worten und blieb in Deckung. Wenn ich hingegen schwieg und mir eine gewisse Andächtigkeit gönnte, so als lebte ich auf Bewährung und mir selbst zur Feier, war es besser. Im Normalbetrieb wurde man ja, ein ums andere Mal, aufgestört, hatte das Gefühl, dass immer noch etwas kommen könnte. Zur Sicherheit trägt das nicht bei. Dennoch glaubte ich, vor allen Befragungen, ein vergleichsweise fest stehendes Selbstbewusstsein zu haben.
"Wenn man sich selbst finden will, muss man sich zuvor verlieren", sagte Emeyer. "Das Ich entdeckt sich erst dann, wenn es auf Freigang ist und seinen Weltinnenraum verlässt."
"Versteh’ ich nicht."
"Ich kann es auch ein wenig zackiger ausdrücken, zeitgemäßer, wenn Sie wollen. Selbstfindung ist kein Solotrip. Sie müssen die anderen mit einbeziehen, das Menschsein an sich."
"Dunkel ist Ihrer Rede Sinn. Noch immer."
"Sie werden es verstehen, wenn Sie mir Gelegenheit geben, Ihnen ein wenig auf die Sprünge zu helfen."
"Das machen Sie doch nicht umsonst", sagte ich misstrauisch. "Sie haben seit dreihundert Jahren keinen Patienten mehr gehabt, und ich soll es jetzt ausbaden."
"Wie gesagt: Ich bin auf den gewöhnlichen Verdienst nicht angewiesen. Wir werden ein Gespräch führen, und danach bekommen wir beide, was wir verdienen. Außerdem nenne ich die Menschen, die zu mir kommen, nicht Patienten, eher schon: Klienten. Am liebsten aber sage ich, dass sie meine Gäste sind."
"Gästen bietet man etwas an", sagte ich. "Wenn ich Ihr Gast werden soll, Meister, sollten Sie mir schleunigst ein stärkendes Getränk offerieren. In Ihrem Haus lastet viel Wissen; dadurch staubt es, und man bekommt heftigen Durst."
So kam es, dass ich in die Altenberatungs-Praxis des Dr. Emile Emeyer geriet und dort zu einer späten Selbstfindung angeleitet wurde, die ich nicht wollte. Ich habe es nicht bereut, sie war mir von Nutzen und hat mich auf andere Gedanken gebracht; mehr kann man dazu, vorab, nicht sagen- der Umgang mit sich selbst bleibt ein prekäres Vergnügen . . .
Später dann, als die meisten meiner Schreib- und Veröffentlichungspläne bereits zum Erliegen kamen, bestellte mich der damalige Arzt meines Vertrauens ein, der es für richtig hielt, mir eine ungünstige Prognose mitzuteilen, was dazu führte, dass er inzwischen nur noch der Arzt meines Misstrauens ist. Ich hatte schlechte Laune und zum ersten Mal das Gefühl, dass möglicherweise etwas zu Ende ging, an dem ich mehr hing, als ich wahrhaben wollte. Zudem spürte ich, wie sich das Alter, dem ich mich so lange überlegen gefühlt hatte, nach Art eines unauffälligen Nagers an mir zu schaffen machte.
Unangenehm, sehr unangenehm. Ich beschloss, zu keinem Arzt mehr zu gehen und mir eine kleine Philosophie zurechtzulegen, in der das Nötigste festgehalten wird, was man für den Rest des Weges noch braucht. Unter den Philosophen ist Schopenhauer, den ich persönlich nie kennengelernt habe, der Mann für alle Fälle; von ihm bezog ich Einsichten, die nicht viel von sich hermachen, für mich aber, der ich inzwischen leider auch vergesslicher geworden bin, das Wesentliche festhalten:
"Wenn man auch noch so alt wird", notierte Schopenhauer, "so fühlt man doch im Innern sich ganz und gar als denselben, der man war, als man jung, ja, als man noch ein Kind war." Die Stimmung, die sich daraus beziehen lässt, kann bei Bedarf auch eine heitere sein: "Solange der Ausgang einer (. . .) Sache nur noch zweifelhaft ist, solange nur noch die Möglichkeit, dass er ein glücklicher werde, vorhanden ist, darf an kein Zagen gedacht werden, sondern bloß an Widerstand - wie man am Wetter nicht verzweifeln darf, solange noch ein blauer Fleck am Himmel ist."
Wobei es eine Sache gibt, die wichtiger ist als jede Philosophie und jedes Wetter: "Überhaupt aber beruhen neun Zehntel unseres Glücks allein auf der Gesundheit." Damit komme ich zurecht. Es geht allerdings auch anspruchsvoller, wie ich weiß. In einem kürzlich erschienenen, sehr empfehlenswerten Buch ist das nachzulesen: "Die hohe Kunst des Alterns" heißt es und stammt von Otfried Höffe (Jg. 1943), einem unserer besten Philosophen, dem es, abseits unverlangt eingesandter Bekenntnisse, schon immer um die Sache ging.
Höffe legt eine präzise Bestandsaufnahme des Alterns vor und stellt die dazugehörigen kantischen Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Die Antworten, die wir darauf geben können, fallen nicht immer zufriedenstellend aus; manchmal werden sie auch gleich an die begründete Ratlosigkeit weitergereicht, in der sich unser Leben einzurichten hat. Das aber muss auszuhalten sein. Eigentlich gibt es nämlich keinen Grund, sich auf dem langen Marsch ins Alter über Gebühr beunruhigen zu lassen; wir bekommen nur, was uns zusteht.
Otto A. Böhmer, geboren 1949, lebt als Schriftsteller in der Nähe von Frankfurt am Main. Er ist Autor zahlreicher philosophischer Bücher und Romane (siehe Besprechung von "Frei nach Schopenhauer").