Wechselbad der Gefühle bei US-Wahl. | Konservativen stellt sich Frage einer Neupositionierung. | Washington. Die Wahlen in den USA haben den Demokraten zwar die Mehrheit im Abgeordnetenhaus gebracht, aber selbst die Sieger des Wahlabends sind sich noch nicht ganz sicher, wie sie mit ihrer neu gewonnenen Macht umgehen werden.
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Der Wahlabend in der Johns Hopkins University begann mit Pizza und Bier, doch nachhaltiger als die leibliche Stärkung war ein Wort, das den Abend von Anfang an begleitete: "Cliff-hanger" (Zitterpartie). Während Studenten, Diplomaten und Politikberater um 19 Uhr auf die ersten Ergebnisse warteten, erinnern sich Politikveteranen in Anekdoten an diverse knappe Wahlgänge in der amerikanischen Geschichte. "Cliff-hanger" sollte eine sehr treffende Beschreibung des Zustandes werden, in dem sich beide Parteien für den Rest der Nacht befinden würden. Auch wenn die Demokraten die Mehrheit im Abgeordnetenhaus gewonnen haben, bleibt der Ausgang der Senatswahlen nach wie vor offen - und das eventuell noch für Wochen.
Die heurigen Midterm-Wahlen waren umfangreich: Es standen alle 435 Sitze im Abgeordnetenhaus zur Wahl, im Senat mussten sich 33 Senatoren der Wahl stellen und zusätzlich ging es um 36 Gouverneure in den jeweiligen Bundesstaaten; ganz zu schweigen von den diversen zusätzlichen Gesetzesinitiativen, die mit diesen Wahlgängen verknüpft werden.
Verhaltene Stimmung bei Republikanern
Für die Partei der Republikaner standen diese Wahlen von Anfang an unter ungünstigen Vorzeichen - mit sich verschlechternder Tendenz. Präsident George W. Bush hat miserable Umfragewerte, der Krieg im Irak und die täglichen Berichte über tragische Verluste auf amerikanischer Seite (die Tageszeitung "Washington Post" nennt beispielsweise jeden Tag die jeweils gefallenen Soldaten mit Namen) heizen den Unmut über die bestehende Administration weiter an. Skandale wie der um den Abgeordneten Mark Foley, der sich mit eindeutigen E-Mails und SMS um minderjährige Kongress-Pagen bemühte, oder um den republikanischen Lobbyisten Jack Abramoff, dessen Machenschaften noch immer umfassend untersucht werden, haben insgesamt eine Stimmung geschaffen, die einen Sieg der Demokraten wahrscheinlich machten.
Der Begriff "Wahlfeier" ist bei der Veranstaltung des Republican National Committee im St. Gregory-Hotel in Washingtons Innenstadt kaum angebracht. Um 21 Uhr herrscht unter den etwa 200 Parteimitgliedern und -freunden gedrückte Stimmung, doch noch hoffen die Republikaner, dass sich der Schaden auf das Abgeordnetenhaus beschränken wird. Doch es finden sich bereits ein paar besorgte Parteimitglieder, die die Mehrheit im Senat in ernster Gefahr sehen.
Demokraten bangen um Mehrheit im Senat
Bei den sich zunehmend als Wahlsieger abzeichnenden Demokraten in den Clubräumen des Democratic National Committee in der Nähe des Capitols bleibt zwei Stunden später die Stimmung noch eher verhalten. Die Mehrheit im Abgeordnetenhaus wird zwar greifbar, doch eine Reihe von extrem knappen Wahlgängen vor allem für den Senat sorgt für ein Wechselbad der Gefühle. Noch will niemand von einem fulminanten Sieg für die Demokraten sprechen, dazu scheinen die vorläufigen Ergebnisse zu unzuverlässig.
Um ein Uhr Nacht wird die erste große Veränderung nach dieser Wahl sichtbar: Die Demokratin Nancy Pelosi hält als neue Sprecherin des Abgeordnetenhauses ihre erste Rede. Als erste Frau übernimmt Pelosi diese eine einflussreiche Stellung, die die vergangenen acht Jahre der Republikaner Dennis Hastert innehatte.
Die Demokraten haben bereits einige Initiativen angekündigt, doch die neuen Mehrheitsverhältnisse werden vor allem die innenpolitische Agenda beeinflussen. Auch wenn die Demokraten nun noch mehr Druck auf Präsident Bush ausüben können, was den Krieg im Irak anbelangt, genießt der US-Präsident grundsätzlich einen relativ großen Handlungsspielraum, speziell in außenpolitischen Belangen.
Je weiter die Nacht voranschreitet, desto mehr fokussiert sich das allgemeine Interesse auf den Bundesstaat Virginia, wo sich der republikanische Kandidat George Allen und sein demokratischer Gegner James Webb ein besonders unappetitliches Rennen um den Senatssitz geliefert haben. Glaubte man den jeweiligen gegnerischen Anschuldigungen, konnten die Bürger Virginias zwischen einem ungeschickten Rassisten (Allen) und einem frauenverachtenden Sexisten (Webb) wählen. Nur wenige tausend Stimmen trennen die beiden Kontrahenten, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass vom Verlierer ein so genannter "Recount", also eine erneute Zählung der Stimmen gefordert wird. Diese Wahlnacht bleibt ein "Cliffhanger".
Die amerikanischen Wähler haben die Republikaner für den Krieg im Irak, Skandale und einen polarisierenden Präsidenten bestraft. Doch für beide Parteien, Republikaner wie Demokraten, steht viel interne Arbeit an: Den Republikanern, die sich zunehmend von der politischen Mitte entfernt haben und ins konservative Eck abgedriftet sind, stellt sich die Frage einer Repositionierung. Bei den Demokraten, die in diesem Wahlkampf kaum eigene Ideen präsentiert haben, ist die Suche nach der eigenen Identität im vollen Gang. Das Pendel, das 1994 so heftig auf die Seite der Republikaner geschwungen ist, nähert sich nun wieder der Mitte.