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Nächtens über die Schengen-Grenze

Von Peter Kantor

Europaarchiv

Die jüngste Erweiterung der EU freut nicht nur die großen Industriekonzerne, sondern auch die internationalen Paketdienste. Sie profitieren vom dynamischen wirtschaftlichen Aufholkurs der neuen Mitgliedsländer in Mittel- und Osteuropa, der auch die Handelsströme beschleunigt und den Bedarf für grenzüberschreitende Paketsendungen nahezu tagtäglich erhöht. Die (Schengen-)Grenze ist für die dabei eingesetzten, zahlreichen Lkw und Sattelschlepper dabei kaum mehr ein Hindernis - zumindest nicht bei Nacht.


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Hans ist eigentlich gelernter Microsoft Systems Engineer und hat überdies einige Semester Soziologie, Alte Geschichte und Archäologie studiert. Die derzeitige Lage am Arbeitsmarkt, insbesondere die Schwemme bei IT-Fachkräften, lässt ihm aber keine andere Wahl, als seine vielen Führerscheine zu nutzen. So arbeitet er seit einigen Monaten für einen Subunternehmer des weltweit größten Paketzustelldienstes und fährt als Chauffeur eines schweren Lkw oder Sattelschleppers fünf Mal wöchentlich in der Nacht von Wien-Schwechat nach Budapest.

Es ist halb 12 nachts, als wir uns auf dem Gelände des Paketdienstes unweit des Flughafens Wien-Schwechat treffen. Der 26-Tonner steht noch am Terminal des Paketdienstes, der Laderaum wird gerade verschlossen und plombiert. Zirka vier Tonnen hat er heute geladen - Pakete von der Größe eines Buches bis zur Größe eines Fernsehers -, vom Gewicht her ein Leichtes für den schweren Lkw.

Es ist eine klare Jännernacht, kalt aber weder eisig noch nebelig, geradezu ideal für eine Nachtfahrt. Im Fahrerhaus ist es gemütlich warm, der erst eineinhalb Jahre alte Mercedes Actros bietet jeglichen Komfort, den ein LKW bieten kann: "Heizung und Musikanlage sind perfekt, der Bordcomputer informiert über alle wichtigen Daten - von möglichen Defekten bis zur Reichweite der Tankfüllung - und die in die Armlehne integrierte, synchrone Schaltung macht das Wechseln der 16 Gänge kinderleicht", erklärt Hans.

Auf der Ostautobahn Richtung Nickelsdorf herrscht trotz der Nachtstunde reger Verkehr. Wir fahren dank Tempomat mit konstanten 80km/h, der erlaubten Höchstgeschwindigkeit für Lkw, und werden von vielen Pkw und auch von einigen Lkw überholt. Bis zu 85 km/h werden von der Polizei toleriert, weiß Hans, der schon viele Polizeikontrollen - vor allem auf ungarischer Seite - hinter sich hat. Die Behörden sind meist nur am Fahrtenschreiber interessiert, achten neben der Geschwindigkeit vor allem auf die Einhaltung der Pausen: Innerhalb von vier Stunden Fahrt muss der Lkw für insgesamt eine dreiviertel Stunde angehalten werden - was auch drei viertelstündliche Pausen bedeuten kann. Nach knapp einer Stunde Fahrtzeit kommen wir gegen ein Uhr morgens zur Grenze Nickelsdorf-Hegyeshalom. Zu meiner großen Überraschung haben wir keinen einzigen Lkw vor uns. Auf österreichischer Seite wird überhaupt nicht kontrolliert und so können wir ohne Stopp über die Lkw-Waage rollen. Ein ungarischer Beamter reicht uns aus seinem Glashäuschen ein Papier mit der Bestätigung, dass sich unser Gesamtgewicht im erlaubten Rahmen befindet und winkt uns zum Kollegen vom Zoll weiter. Auch der ist kaum an uns interessiert, wirft nur einen flüchtigen Blick auf unsere Pässe und verabschiedet uns: "Viszontlátásra!"

Der Grenzübertritt hat insgesamt drei Minuten gedauert, eine für Werktage meist üblich rasche Abfertigung. "Längere Wartezeiten gibt es meistens nur bei der Rückfahrt tagsüber Richtung Österreich", erzählt Hans. Am schlimmsten sei es am Montag in der Früh. Da stehen die Lkw oft kilometerweit, was Wartezeiten bis zu drei Stunden bedeute. Grund dafür ist alleine das hohe Verkehrsaufkommen, denn kontrolliert wird auch Richtung Österreich nicht genauer. "Meist beschränken sich auch die Österreicher nur auf die Pass- und Gewichtskontrolle. Nur selten wollen sie den Frachtbrief sehen", so Hans. Den Laderaum habe er in den drei Monaten, die er Budapest fährt bisher erst drei mal öffnen müssen.

Mittlerweile haben wir Györ passiert und nähern uns Budapest. Der Verkehr ist weniger geworden, wir haben die ungarische Autobahn (M 1) streckenweise für uns alleine. Langsam macht sich die Müdigkeit bemerkbar und wir "dopen" uns mit Schokolade und Tee. Dass selbst die menschenleere, schnurgerade Autobahn für manche Fahrer zum Verhängnis werden kann, zeigen zahlreiche Kreuze und Kränze entlang der Strecke sowie beschädigte Leitschienen und am Dach liegende Autos im Graben neben der Fahrbahn. Ein besonders "kurioser" Unfall dürfte sich eben ereignet haben: Ein Kleintransporter steht mit der Vorderachse auf den Leitschienen - hinter ihm zehn Meter umgestürzte Leitschienen und ein geknickter Begrenzungspflock. Der Fahrer dürfte eingeschlafen sein, interpretieren wir, und stellen erleichtert fest, dass der Fahrer das Auto schon verlassen hat, er also scheinbar mit dem Schrecken davon gekommen ist.

Nach rund dreieinhalb Stunden Fahrtzeit biegen wir - inzwischen südlich von Budapest auf der M 0 unterwegs - bei der Ortschaft Gyál von der Autobahn ab und finden uns in einer zersiedelten, ländlichen Umgebung wieder. Die Straßen sind an vielen Stellen unbefestigt und teilweise in einem desolaten Zustand. In den Ortschaften mit ärmlichem Charakter reihen sich kleine Häuser mit bröckelndem Verputz, Hinterhöfe mit kaputten Ladas, Papiersammelstellen, Schottergruben, Erdhügel, aber auch Niederlassungen internationaler Firmen wie etwa eine von Strabag, aneinander - eine endzeitliche Stimmung um diese Nachtzeit. Obwohl es erst halb vier Uhr morgens ist, stehen schon die ersten, in dicke Mäntel verhüllte Arbeiter an den Bushaltestellen und warten auf den Bus nach Budapest. Hans ärgert sich, wettert gegen die ungarischen Lkw-Fahrer, die - ihres Heimvorteils bewusst - wie Hans sagt "kriminell" auf den kleinen Straßen unterwegs sind.

Gegen 4 Uhr sind wie endlich am Ziel, einem beinahe penibel aufgeräumten Lkw- und Paketdienst-Terminal. Der Portier wünscht uns "Jó reggelt", aber wir wollen nur noch schlafen. Da wir dank des guten Wetters und des relativ geringen Verkehrs früh dran sind, haben wir jetzt drei Stunden Zeit - für einen kurzen Schlaf in der Fahrerkabine. Gegen 7 Uhr wird der Lkw von den Lagerarbeitern des Paketdienstes entladen, dann können wir uns wieder auf den Heimweg machen. Bis halb 12 Uhr mittags sollten wir - wenn der Verkehr sich in normalen Grenzen hält - wieder zu Hause sein, sagt Hans, dreht sich auf die Seite und ist schon eingeschlafen.