Der FPÖ-Nationalratspräsident hat im Sommer nicht aus dem Stegreif über Selbstbestimmung philosophiert. Das Thema grassiert in Südtirol - und macht Politikern Sorge.
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Auf YouTube wird seit wenigen Tagen ein zehnminütiger Film der Bewegung "Süd-Tiroler Freiheit" herumgereicht. Im propagandistischen Sinn ist er ausgezeichnet gemacht, beginnt mit einem Bild des historisch befrachteten Schlosses Sigmundskron, endet mit einem lichtdurchfluteten Gipfelkreuz und verkündet dazwischen eine einzige Botschaft: Selbstbestimmung für Südtirol. "Süd-Tirol ist nicht Italien" steht bereits auf Aufklebern und Leiberln, die sich jedermann beschaffen kann.
Die etablierten Südtiroler Politiker befürchten, dass via Internet etwas gelingt, wozu die klassischen Medien ungeeignet sind: eine Unterhöhlung der mit dem Südtirol-Paket 1969 gestarteten friedlichen Autonomiepolitik innerhalb des italienischen Staatsverbandes. Als Hebel könnte eine oszillierende Selbstbestimmungsbewegung dienen.
Aus gesellschaftspolitischer Sicht sind die neuen Erscheinungen brisant. Die italienische Provinz Südtirol und ihre Bevölkerung - sie ist zum überwiegenden Teil deutschsprachig - hat in den 40 Jahren aus der vom damaligen Landeshauptmann Silvius Magnago erkämpften Autonomie große Vorteile erlangt: nicht nur solche des Minderheitenschutzes, sondern auch eine wirtschaftliche Bevorzugung Trentino-Südtirols durch die Zentralregierung in Rom. Das Autonomiestatut wird als gelungener Umgang mit Minderheiten gepriesen. Bloß scheint in Südtirol alles so selbstverständlich geworden zu sein, dass die breite Bevölkerung kaum einen Gedanken daran verliert.
Als der Dritte Nationalratspräsident Martin Graf im Sommer in einem "Presse"-Interview völlig überraschend, wenn auch wolkig, das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler beschwor und sogar Parallelen zum Fall der Berliner Mauer zog (auch sie kommt im Film vor), wurde er in Österreich und auch in Südtirol zu Recht heftig kritisiert. Dabei wurde übersehen, dass Graf offenbar nicht aus heiterem Himmel extemporierte, sondern aus dem schöpfte, was sich in Südtirol schon länger vorbereitet.
Südtirols Landeshauptmann Luis Durnwalder hatte sofort nach Grafs Äußerungen gegengesteuert, sie als verantwortungslos bezeichnet und darauf aufmerksam gemacht, dass eine neue "Los von Rom"-Bewegung auf Kosten der Autonomie gehen würde.
Darum schert sich freilich die "Süd-Tiroler Freiheit" überhaupt nicht. Als Wanderpredigerin zieht Eva Klotz, Tochter des im österreichischen Exil gestorbenen Freiheitskämpfers der 1960er Jahre, Georg Klotz, durchs Land und lädt zu Wanderungen entlang jenes Weges ein, auf dem ihrem bei einem heimtückischen Attentat schwer verwundeten Vater 1964 die dramatische Fluch nach Österreich gelang. Bei der Landtagswahl 2008 zog die einstige SVP-Politikerin mit 9900 Vorzugsstimmen für die "Süd-Tiroler Freiheit" in den Landtag ein. Ihre Splittergruppe ist dort mit 4,9 Prozent der Stimmen und zwei Mandaten vertreten.
Die ernste Frage der Gegenwart ist, ob Eva Klotz und andere mit ihren politischen Familiengeschichten das Vakuum füllen, das im historischen Wissen vieler und vor allem junger Südtiroler entstanden ist. Es wird viel Aufklärungsarbeit nötig sein, um klar zu stellen, dass der Appell im oben erwähnten Film, die Autonomie durch eine "Selbstbestimmung" zu ersetzen, das Ende von Stabilität und Sicherheit in Kauf nimmt. Zurufe prominenter österreichischer FPÖ-Politiker sind entbehrlich, aber immerhin, den Applaus der "Süd-Tiroler Freiheit" hat Graf bekommen