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Nachtzug in den Krieg

Von Klaus Stimeder

Politik
Abschied am Bahnsteig, der Zug fährt von Odessa nach Lwiw.
© The Washington Post via Getty Images, Salwan Georges

Während in der Ukraine die Kämpfe toben, verkehren die Züge zwischen den Metropolen des Landes nach wie vor - wenn auch mit Hindernissen. Eine Reise von Lemberg nach Odessa im Frühjahr 2022.


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Die Uhr zeigt zehn Minuten vor elf, als der erste Einschlag jene Passagiere aus dem Schlaf reißt, die sich bereits hingelegt haben. Die, die noch wach sind, kämpfen sichtlich mit dem Instinkt, den Vorhang aufzuziehen, der die Kabine nach außen wie nach innen verdunkelt. Eine weitere Explosion ist zu hören, diesmal weiter weg als die erste. Der Umstand, dass der Zug von einem Moment auf den anderen seine Fahrt deutlich verlangsamt, trägt nicht zur Erleichterung bei. Die stellt sich erst nach einer gefühlten Ewigkeit ein, als gewiss scheint, dass er nicht halten wird, sondern weiterfährt und da draußen, wo immer das zu diesem Zeitpunkt sein mag, wieder relative Stille eingekehrt ist. Das Schauspiel wird sich in dieser Nacht noch einmal wiederholen. Kurz nach drei Uhr morgens sorgt eine weitere Explosion nahe den Schienen dafür, dass jene Menschen, die am Abend zuvor den Nachtzug von Lemberg nach Odessa bestiegen haben, in der Gewissheit leben, wirklich nirgendwo mehr in diesem Land sicher zu sein.

Als der Zug ein paar Minuten später hält und sich dann wieder in Bewegung setzt, ist im Gang die Stimme einer Frau zu hören, die sich laut und hörbar aufgeregt mit jemandem unterhält. Am nächsten Morgen wird die Fahrkartenkontrolleurin erzählen, dass ihr eine zugestiegene Frau berichtet hat, dass in der Nacht fünf russische Raketen in der Kleinstadt eingeschlagen seien, in der sie lebt. Verifizieren lässt sich das nicht. Über die Ukraine des Frühjahrs 2022 hat sich der Nebel des Krieges gelegt, und von dem, was hier jeden Tag passiert, kann man nur berichten, aber den Wahrheitsgehalt oft nur so weit überprüfen, wie es die Umstände zulassen. Dafür, jenen Menschen, die in dieser Nacht mit dem Zug nach Odessa reisen, keinen Glauben zu schenken, gibt es aber wenig Grund.

Taira, die Auto-Retterin

Taira ist 28 Jahre alt und auf dem Weg zurück aus Mailand. Fast alles, was sie bei sich trägt, ist nicht für sie, sondern für ihre Freunde und Verwandten. Aus ihrem Koffer, der voll mit Essen, Medikamenten und warmer Kleidung ist, riecht es nach Salami, Cantuccini und anderen kulinarischen Spezialitäten aus dem italienischen Norden. Seit Kriegsausbruch pendelt Taira zwischen ihrer Heimatstadt am Schwarzen Meer und den Metropolen südost- und westeuropäischer Länder hin und her: Moldawien, Rumänien, Ungarn, Kroatien, Italien, Deutschland, Österreich. Ihr Job: die Autos von Familien, die sie in der Ukraine zurückgelassen haben, zu deren neuen Wohnsitzen in- und außerhalb der EU zu bringen. Viele ihrer Kunden kennt sie persönlich. In Friedenszeiten arbeitete sie für eine der größeren Autoservice-Firmen in Odessa und Umgebung. In den vergangenen dreieinhalb Wochen hat sie an den meisten Tagen zwischen vierzehn und achtzehn Stunden hinter dem Steuer verbracht.

Wenn sie die Autos abgeliefert hat, setzt sich Taira entweder in einen anderen Wagen, den bereits vor dem Krieg ausgewanderte Ukrainer dem Militär spenden wollen, oder in den Zug und macht sich auf den Weg zurück. Dann beginnt das Rad von Neuem. Obwohl ihr Englisch gut ist, verlässt sie sich, wie viele junge Leute in diesem Teil der Welt, auf Dolmetsch-Apps, um sicherzugehen, dass ihre Worte auch wirklich richtig verstanden werden. Über den Krieg an sich hat sie wenig zu sagen; aber wenn, dann klingt ihre Einschätzung der Lage ihrer Heimat pessimistischer als jene der offiziellen Stellen: "Was uns hilft, durchzuhalten und nicht zu verzweifeln, ist unsere Ignoranz. Wir bekommen nur die Verluste der russischen Seite zu hören. Aber wenn wir wüssten, wie viele von unseren Jungs bisher gestorben sind, wären wir nicht so stark und optimistisch."

"Wir müssen sie stoppen"

Zwei Waggons weiter sitzt einer im Dunkeln, der davon nichts hören will. Dmytro ist 32 Jahre alt und kann sich derzeit nur mit Hilfe von Krücken bewegen. Er ist dankbar, dass es warm ist im Zug. Während andere wegen der bis zum Anschlag aufgedrehten Heizung kaum ein Auge zutun, scheint er die Hitze in seinem Abteil, die ihn sichtlich zum Schwitzen bringt, einfach nur zu genießen. Am 6. März war das Fahrzeug des Berufssoldaten, das er sich mit zwei Kameraden teilte, in einem Vorort der Stadt Luhansk in einen Hinterhalt der Invasoren geraten. Laut Dmytro stand seine Einheit minutenlang unter russischem Raketenbeschuss. Als er es das erste Mal wieder wagte, seinen Kopf zu heben, realisierte er, dass er der Einzige in seinem Fahrzeug war, der noch am Leben war, und dass sein linkes Bein stark blutete. Während rund um ihn weiter die Geschosse einschlugen, legte er sich eine Aderpresse an - ein Abbindesystem, durch das der Blutfluss in den Venen und Arterien gestaut oder vollständig unterbrochen werden kann. Seine Kenntnisse um diese Technik rettete ihm nicht nur das Leben, sondern hielt auch die Langzeitschäden in Grenzen.

Nachdem er vierzehn Tage in ärztlicher Behandlung in Lemberg verbracht hat, will Dmytro sich in den kommenden drei Wochen bei seiner Familie in Odessa erholen, jener Stadt, in der er geboren und aufgewachsen ist. Und dann? "Sobald die Wunde verheilt ist, ziehe ich wieder in den Krieg." Um seiner Entschlossenheit Nachdruck zu verleihen, zeigt Dmytro seinen Militärausweis. Der Odessiter steht im Rang eines Wachtmeisters bei der ukrainischen Artillerie. Der Armee gehört der Glatzkopf mit den stechend grünen Augen und jener Art von Bart, die ihn als gläubigen Moslem zu erkennen gibt, seit 2015 an. "Ein Jahr, nachdem Russland die Krim und den Donbass überfallen hat. Ich habe damals lange nachgedacht und dann entschieden, dass ich nicht mehr einfach nur zuschauen kann. Die Russen wollen uns erobern und unterdrücken", sagt Dmytro. "Wir müssen sie stoppen. Um jeden Preis. Auch den meines Lebens."

Die Familie holen, dann kämpfen

Als gegen sechs Uhr die Sonne aufgeht, erlaubt die Kontrolleurin das Öffnen der Vorhänge und beginnt, Instant-Kaffee und -Tee in Plastiktassen auszuschenken. Ein stämmiger, älterer Herr in schmutzigem T-Shirt, ausgewaschenen Jeans und einer auffälligen Goldkette um den Hals wedelt mit einer Zigarettenschachtel herum und drückt ihr nach kurzer Unterhaltung 50 Hrywnia in die Hand, umgerechnet eineinhalb Euro. Dann macht er sich gemeinsam mit zwei anderen Rauchern in den Bereich zwischen den Waggons auf. Nach ein paar in gebrochenem Englisch vorgetragenen Flüchen, die an seiner Meinung über Wladimir Putin im Besonderen und Russland im Allgemeinen keinen Zweifel lassen, erzählt er über den Zweck seiner Reise nach Odessa.

Vyacheslav, so heißt der Mann, ist 56 Jahre alt und kommt gerade aus Polen, wo er arbeitet. Sein Ziel ist nicht die Endstation des Zuges, sondern jene knapp über 130 Kilometer weiter östlich gelegene Stadt, deren Verteidiger dafür sorgen, dass die Odessiter trotz regelmäßiger Angriffe aus der Luft und vom Meer aus bis heute relativ ruhig schlafen können. Vyacheslav stammt aus dem in Friedenszeiten knapp eine halbe Million Menschen beherbergenden Mykolajiw, jener strategisch wichtigen Stadt der Südukraine, an der sich die russischen Streitkräfte bis zuletzt die Zähne ausbissen.

Vyacheslavs Plan: Seine Familie - seine Frau, zwei erwachsene Kinder und ein Teenager - aus der Ukraine herausholen, nach Rumänien bringen und dann zurückkehren, um zu kämpfen. Sein Alter sei dabei kein Problem. Im Gegenteil: "Ich weiß mehr über die Russen als die, die uns heute vernichten wollen. Ich habe meinen eigenen Militärdienst noch in der Sowjetunion absolviert."

Ein Dutzend Zigarettenlängen und zwei Instantkaffee später gehen die scheinbar endlosen Felder und Wiesen, die vorm Fenster vorbei rauschen, langsam aber sicher in dichter und dichter besiedeltes Gebiet über. Mit einer unterbrechungsbedingten Verspätung von zweieinhalb Stunden fährt der Nachtzug von Lemberg in den Bahnhof von Odessa ein und spuckt seine Passagiere auf die Plattformen aus. Es ist einer jener seltsamen Momente, in dem nicht nur die Leute die Ankommenden umarmen, auf die sie gewartet haben, sondern auch viele der Ankommenden einander in die Arme fallen.