Bei Mitteln der Bürgerbeteiligung sollte sich die Politik eher zurücknehmen.
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"Wiener Zeitung": Seit Rot-Grün hat es den Anschein, dass die Befragungen der Bürger in Wien mehr werden. Hat sich hier etwas grundlegend verändert?
Gertraud Diendorfer: Die Forderung nach mehr direktdemokratischen Elementen hat schon in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Das kann man sowohl auf Bundesebene sehen, wie auch in Wien. In Wien hat es die letzten 20 Jahre stark das direktdemokratische Instrument der Volksbefragung gegeben. Insgesamt hat es seit 1973 acht Volksbefragungen in Wien gegeben. Sie haben eine größere Wirkung bekommen, weil die Ergebnisse der meisten Befragungen von den Politikern auch umgesetzt wurden.
Derzeit hat man das Gefühl, dass in Wien die Bürger auf sehr vielen Ebenen miteinbezogen werden, von der Wiener Charta über Anrainerbefragungen zu Petitionen. Kann es auch zu viel sein?
Ich sehe, dass die Politik und die Gesellschaft hier noch lernen müssen, mit diesen direktdemokratischen Elementen umzugehen. Mit jeder Initiative, mit jeder Befragung lernen wir dazu. Das Positive an direkter Demokratie ist, man braucht Sachinformation, um sich eine Meinung zu bilden. Daher geht es idealerweise mehr in den sachlichen Dialog.
Wo zieht man die Grenze? Soll man alle Bürger immer miteinbeziehen?
Direkte Demokratie hat auch ihre Grenzen und es gibt auch Gefahren. Eine Grenze ist etwa dort gegeben, wo es um Minderheitenschutz geht. Viele Themen sind nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Wir sehen das an der vergangenen Volksbefragung, bei der die Formulierung der Fragen stark kritisiert wurde. Es ist oft schwierig, Politikbereiche in ein Schema zu zwingen. Da hat die Politik ihre Grenzen. Die Gefahr liegt auch darin, dass direkte Demokratie auch autoritäre Tendenzen ermöglichen kann. Wenn man alles und jedes einer Volksbefragung unterziehen will. Oder, dass jene, die über mehr Geldmittel verfügen, auch leichter über Kampagnisierung eine Meinung beeinflussen können. Dennoch ist der Ausbau direkter Demokratie wünschenswert.
Nach dem Vorbild der Schweiz?
Die Schweiz hat eine ganz andere Kultur. Was man beim Minarett-Verbot dort sieht: Direkte Demokratie kann auch dazu führen, dass manche Bereiche nicht innovativ weitergeführt werden. Auch das Frauenwahlrecht wurde dort erst 1975 eingeführt, bei uns schon 1918. Die Schweiz dient also nur begrenzt als Vorbild. Einig sind sich aber alle, dass es mehr Elemente der direkten Demokratie in Österreich braucht.
Worüber wird derzeit diskutiert?
Die Hauptdiskussion ist, wie verpflichtend Initiativen oder Volksbegehren sein sollen. Es gibt den Vorschlag, dass ab einer gewissen Anzahl von Unterschriften bei Volksbegehren, eine Volksabstimmung verpflichtend ist. Auf der anderen Seite muss man sich aber anschauen, wie viele sich an der Abstimmung beteiligen. Dann könnte nämlich eine Minderheit entscheiden.
Die meisten Bürgerinitiativen werden aber ohnehin von den Politikern selbst initiiert.
Es wäre wünschenswert, wenn Parteien die direktdemokratischen Elemente zwar ermöglichen, diese selbst aber nicht so exzessiv nutzen würden. Die Opposition etwa setzt diese Elemente der direkten Demokratie dazu ein, die Regierung unter Druck zu setzen. Die Regierungsparteien haben andere Möglichkeiten, Politikvorhaben umzusetzen. Wenn wir jetzt laufend Volksbegehren und Initiativen von Parteien haben, dann geht es sehr stark um eine parteipolitische Zuspitzung und Konfrontation und das soll es nicht sein. Die Bürger sollen die Möglichkeit haben, sich stärker einzubringen und bei der Gesetzgebung mitwirken zu können. Das ist das Ziel.
Was hat der Wiener derzeit für Möglichkeiten?
Die Bürgerinitiative, das Volksbegehren, das fünf Prozent aller Wahlberechtigten braucht, und das Petitionsrecht, das jetzt die Möglichkeit schafft, dass 500 Bürger eine Petition einbringen können, die im Ausschuss behandelt wird. Neu dabei ist, dass die Vertreter im Gemeinderat angehört werden. Die Regierung muss jetzt schauen, was machbar ist, es sollte keine Initiative abgetan werden. Volksabstimmung oder Begehren gab es in Wien noch nie.
Eignet sich jedes Thema für eine Befragung?
Nein. Politik ist komplexer geworden.
Zum Fall Fußgängerzone Mariahilfer Straße: Hier wurde und wird sehr viel abgefragt. Ist das direkte Demokratie oder Schein-Bürgerbeteiligung?
Sichtbar ist, dass die Politik sagt, wir wollen die Bürger miteinbeziehen, aber die Frage ist auch, wie transparent und verbindlich dieser Prozess ist. Man kann auch leicht der Versuchung erliegen, Entscheidungen mit Umfragen zu legitimieren. Es gilt aber, je mehr Elemente direkter Demokratie möglich sind und genützt werden, umso stärker ist die Sachdiskussion und das Gefühl, man kann doch etwas erreichen. In Wien gibt es derzeit viele Bemühungen, mehr Partizipation zuzulassen. Es gibt mehr Initiativen. Da hat sich das Klima in den letzten Jahren schon geändert. Man hat das Ohr ein bisschen näher an der Bevölkerung.
Wissen: Demokratiezentrum Wien
Das Demokratiezentrum Wien gibt es seit 2000. Es ist ein unabhängiges Institut, das von Historikern, Politik- und Kulturwissenschaftern getragen wird. Es versteht sich als Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Bildung und Öffentlichkeit. Der Schwerpunkt liegt auf politischer Bildung. So wurde die Wanderausstellung Migration konzipiert, die in mehr als 150 Schulen in Wien gezeigt wurde. Gefördert wird das Institut von Ministerium, Stadt Wien und der EU.
www.demokratiezentrum.org