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Näher bei den Göttern

Von Philipp Lichterbeck

Reflexionen

Kolumbien wird bei Touristen immer beliebter: Eine der Hauptattraktionen ist die Verlorene Stadt, die man nach einer dreitägigen Dschungelwanderung erreicht.


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Runde und ovale Mauerreste, die sich in Terrassen den Berg hinaufziehen. Viel mehr ist nicht übrig von Ciudad Perdida, der Verlorenen Stadt, im Dschungel der Sierra Nevada.
© Lichterbeck

Und dann rennt der schon wieder an uns vorbei. In weißer Tunika und weißen Hosen nimmt der Kogi leichtfüßig die Steigung; die Beine stecken in Gummistiefeln, die langen schwarzen Haare wehen im Wind. Auf der Stirn des kleingewachsenen Indios zeigt sich kein Schweißtropfen. Und so, als ob er unsere Wandertruppe verhöhnen wollte, bleibt er oben stehen und holt aus seiner Umhängetasche wieder den Poporo: einen kleinen ausgehöhlten Kürbis mit langem Hals. Das Ding, so viel wissen wir bereits, ist mit Muschelkalk gefüllt. Der Kogi führt einen Stab hinein, leckt daran und reibt die Spucke an der Außenhaut des Kürbisses ab.

Der Effekt ist verblüffend: Mit den Monaten wird der Poporo durch die Kalkablagerungen immer größer - bis er schließlich zu voluminös ist, um im Beutel der Kogis mitgeführt zu werden. Dann wird ein neue Poporo in Angriff genommen.

Dem Kogi-Glauben zufolge stellt eine so gewachsene Kalabasse die Materialisierung der Gedanken ihres Besitzers dar. Je besser die Gedanken, umso schöner der Poporro. Aber der Poporo unseres Begleiters ist noch klein, daher muss sein Wachstum stetig befördert werden. Das heißt: alle fünf Minuten. Die Poporo-Pflege hindert den Kogi aber nicht daran, wie ein Wiesel durch den Dschungel zu flitzen. Der Mann ist der Koch unserer Wandergruppe und will vor uns im Camp sein, um das Abendessen vorzubereiten. Nicht in seiner Funktion als Koch ist er komplett in Weiß gekleidet. Die Kogis tragen immer und überall weiß.

Aufbäumen der Anden

Ein schmaler Pfad windet sich durch den Dschungel der Sierra Nevada de Santa Marta. Das Gebirge am nordöstlichsten Zipfel Kolumbiens ist das letzte Aufbäumen der Anden, bevor der südamerikanische Kontinent in der Karibik abfällt. Ihre beiden höchsten Gipfel sind 5700 Meter hoch und machen die Sierra Nevada zum zweithöchsten Küstengebirge der Welt. Küstengebirge ist hier wörtlich zu verstehen: Nur einige Kilometer weiter unten kann man am Strand liegen, Cocktails trinken und sich vorstellen, wie der Wind über die schroffen Berge pfeift, die schneebedeckt am Horizont aufragen.

Ob dieser Strandperspektive ergibt sich natürlich die Frage, was wir hier machen, durchgeschwitzt, verschlammt, von Moskitos attackiert und von Kogis verhöhnt. Die Antwort lautet: Wir sind auf dem Weg zur Ciudad Perdida - der Verlorenen Stadt, ein von Mythen umrankter Ort tief in der Sierra Nevada, zwei Tagesmärsche von der nächsten Siedlung entfernt. Jahrhundertelang lag Ciudad Perdida vergessen im Urwald, bis Grabräuber 1972 auf eine steinerne Treppe im Dschungel stießen, deren Ende sie nur erahnen konnten, so weit führte sie einen Berg hinauf. Oben fanden die Männer die Mauern Hunderter kreisrunder Gebäude.

Die Anlage, so glaubt man heute zu wissen, war einst das reli-giöse und politische Zentrum der präkolumbischen Tayrona-Kultur. Errichtet um das Jahr 800, wurde sie von ihren Bewohnern im 16. Jahrhundert wieder verlassen und vom Urwald verschluckt. Nur die Nachkommen der Tayronas - die Kogis, Arhuaco und Wiwas - besuchten die Ruinenstätte weiterhin sporadisch, hielten ihre Existenz aber geheim.

Ab 1976 legte die kolumbianische Regierung Ciudad Perdida frei und stellte sie unter Denkmalschutz. Dennoch war der Besuch lange nur unter großen Risiken möglich. Der kolumbianische Bürgerkrieg beherrschte auch die Sierra Nevada: In den Bergen patrouillierte die linke Guerillatruppe ELN, die 2003 acht Ausländer aus Ciudad Perdida entführte. Weiter unten trieben rechte Paramilitärs ihr Unwesen. Dazwischen lebten rund 30.000 Indigene, die Fremden den Zutritt zu großen Teilen der Sierra Nevada verweigerten. Sie tun dies bis heute. Nur eine einzige Route zur Verlorenen Stadt haben sie freigegeben. Dafür erhalten sie einen Teil der umgerechnet 250 Euro, die man für die viertägige Wanderung samt Unterkunft und Verpflegung zahlt.

Für die Sicherheit sorgt jetzt der Staat. Als wir am Vormittag in dem Dorf Machete Pelado die Wanderung begannen, standen dort Soldaten der kolumbianischen Armee. Zwei Tage später werden wir in Ciudad Perdida auf einen Militärposten treffen. Die Botschaft ist klar: Hier wird niemand mehr entführt. Und so hat das Ende des Bürgerkriegs zu einer regelrechten Explosion der Trekkingtouren geführt. Allein ist man bei diesem Abenteuer jedenfalls nicht mehr.

Nach längerem Anstieg kommen wir an einem Holzverschlag vorbei, in dem ein fröhlicher Bauer isotonische Getränke sowie Kokablätter aus eigenem Anbau anpreist. Wir erinnern uns, dass letztere in einem Subprodukt auch als bolivianisches Marschierpulver bezeichnet werden, und sagen: Her damit, guter Mann!

Eine Handvoll Blätter in die Backe geschoben, und schon marschieren wir fidel drauflos und erfreuen uns an der Landschaft. Schluchten tun sich auf, aus denen gewaltiges Flussrauschen aufsteigt, die Berghänge ziehen sich immer steiler in den Himmel, intensiver wird auch das Schreien, Warnen und Singen der Vögel, das Klopfen der Spechte und das Schnarren der Zikaden - und in vielen Momenten: die plötzliche Stille. Hier ist man wirklich mal weg, keine Straßen, kein Strom, kein Internet.

Stunde der Schlangen

Die Sierra Nevada ist seit 1964 kolumbianischer Nationalpark und gilt heute als eines der weltweit wichtigsten Schutzgebiete für bedrohte Tierarten, etwa den Jaguar und den Kondor.

Pünktlich mit dem Sonnenuntergang gelangen wir zum ersten Camp. Das Camp Alfredo besteht aus drei Dutzend robusten Doppelstockbetten sowie Hängematten unter einem Wellblechdach. Die Betten sind mit Gummima-tratzen und Moskitonetzen ausgestattet. In einem Betonbau gibt es ein paar rudimentäre Duschen. Aber wir bevorzugen einen nahe gelegenen Bach fürs Bad. Als wir zurückkommen, ist einer unserer Führer ganz aufgeregt. Nach Einbruch der Dunkelheit solle man im Camp bleiben, es sei die Stunde der Schlangen.

Es kommen dann noch zwei weitere Wandergruppen im Camp an, und wir sitzen mit Holländern, Schweizern, Amerikanern, Franzosen, Italienern, Argentiniern und Kolumbianern an einer langen Holztafel, schaufeln Rindfleisch, Reis und Yucca in uns hinein, der Kogi-Koch hat ganze Arbeit geleistet. Transportiert wird die Verpflegung von Mulis, die mit riesigen Säcken die Pfade entlang getrieben werden.

Um 5 Uhr 30 heißt es: Aufgestanden! Der Wald erwacht mit einem Sinfoniekonzert aus Vogelgesängen. Als Frühstück gibt es Eier, Bananen und dünnen Kaffee. Eine 14 Kilometer lange Etappe liegt vor uns, die eigentliche Herausforderung. Der Pfad ist so verschlammt, dass man sich seitlich an ihm vorbeischlagen muss. Es folgen atemraubende Steigungen; und Abhänge, welche die Knie harten Belastungsproben unterziehen. Es geht barfuß durch Flüsse, an gespannten Seilen entlang. An einer besonders bukolischen Stelle ragt auf einer Lichtung eine Kogi-Siedlung aus dem hohen Gras: Rundhütten aus Holz, deren Dächer spitz zulaufen. Sie symbolisieren die höchsten Berge der Sierra Nevada, die den Kogi heilig sind.

Ein paar Kogi-Frauen sitzen im Freien, erwidern aber unsere Grüße nicht. Die Kogis sind gespalten, was den Umgang mit Touristen angeht. Einige Gruppen lehnen den Kontakt mit der Außenwelt ab und haben sich in die Berge zurückgezogen. Andere haben einen Kompromiss gefunden und kooperieren mit den Tourveranstaltern. Beeindruckend ist, wie sie an ihrer Kosmologie und Spiritualität festhalten. Die Kogi betrachten sich als Hüter von Mutter Erde. Die Sierra Nevada ist ihr Herz, das sie beschützen müssen. Ohne ihr Herz stirbt die Welt, sagen sie.

So richtig das sein mag, so archaisch wirken viele der Kogi-Traditionen. Nur Männern ist es gestattet, Schuhe zu tragen, Frauen und Kinder laufen barfuß. Und während die Frauen Holz sammeln oder auf dem Feld arbeiten, sieht man die Kogi-Männer zumeist an ihren Poporos herumspachteln, deren Handhabung wiederum den Frauen untersagt ist. Auch Kokablätter dürfen nur die Herren der Schöpfung kauen. Mädchen hingegen werden mit der ersten Periode vermählt - und von da an heißt es: Kinder kriegen. Diese warten an einigen Stellen des Weges und betteln um Süßigkeiten. An einer Raststelle sieht man eine Gruppe von Kogis wie hypnotisiert auf einen Fernseher starren, der per Generator betrieben wird. Ein Bild brutaler Widersprüchlichkeit.

1200 Stufen hinauf

Als die Sonne zu Mittag ihren Zenit erreicht, machen wir an einem Fluss halt und baden im kristallklaren Wasser. Kurz darauf beginnt es zu schütten. Völlig durchnässt erreichen wir das nächste Camp, das rappelvoll ist, denn eine Schulklasse aus Bogotá hat es in Beschlag genommen. Einer ihrer Begleiter erzählt, dass die Kids lernen sollen, ohne Internet klarzukommen . . .

Am nächsten Morgen heißt es erneut früh raus. Ciudad Perdida liegt nur noch wenige Kilometer entfernt, und wir wollen als Erste oben sein. Wir waten durch den Rio Buritaca und finden die legendäre Treppe zur Verlorenen Stadt. Sie besteht aus Steinplatten, ist schmal und rutschig. 1200 Stufen geht es nun vorsichtig hinauf. Und dann ist sie da: die Lost City.

Runde und ovale Mauerreste liegen vor uns, die sich in Terrassen den Berg hinaufziehen. Viel ist nicht mehr übrig von der Verlorenen Stadt. Man braucht etwas Fantasie, um sich das Leben der 8000 Menschen vorzustellen, die hier gelebt haben sollen. Es ist die Atmosphäre, das Mysterium, von denen der größte Reiz ausgeht.

Wir fragen uns, warum die Tayrona ihre Hauptstadt an diesem abgelegenen, schwer zugänglichen Ort errichtet haben. Die Antwort ist, dass sie sich auf 1200 Metern näher bei den Göttern wähnten. Die runden Strukturen der Gebäude symbolisierten die Gestirne. Die Steine, aus denen die Tayrona ihre Häuser bauten, sprengten sie von Felsen ab, die sie erhitzten und mit kaltem Wasser übergossen.

Als wir vom höchsten Punkt der Anlage auf die Mauerreste hinunter blicken, nähert sich uns ein alter Kogi. Es ist der Schamane Mamo Romualdo. Er bewacht die heilige Stätte. Romualdo ist zu so etwas wie dem Maskottchen der Verlorenen Stadt geworden. Die Touristengruppen, die bald nach uns eintreffen, fotografieren ihn ausgiebig, stellen ihn hier und dort hin. Eine seiner Frauen (Schamanen sind Polygamisten) verteilt Armbänder, die Glück bringen sollen - auch für sie, in Form von ein paar Pesos. Und dann greift der Schamane in seinen Umhängebeutel und holt einen Poporo heraus. Wir beginnen mit dem Abstieg.

Philipp Lichterbeck, geboren 1972, lebt zur Zeit in Rio de Janeiro und arbeitet als Journalist für verschiedene Printmedien.