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Nährboden der Gewalt

Von Judith Belfkih

Leitartikel

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Ein Einzelfall. Ein tragischer Einzelfall. Dagegen ist man machtlos. Ein junger Mann klopft mitten in der Nacht an die Haustüre seiner Exfreundin. Er wird abgewiesen und erschießt daraufhin nicht nur sie, sondern auch ihre ganze Familie. Fünf Menschen sind tot, als Motiv wird Eifersucht angenommen. Nach der tiefen Betroffenheit, die eine Tragödie wie jene in Kitzbühel auslöst, stellt sich meist Ohnmacht ein. Ohnmacht darüber, dass sich in Köpfe von Menschen nicht hineinschauen lässt. Dass sich nicht verhindern lässt, dass aus enttäuschter Liebe blutige Rache wird. Ein Einzelfall also, wenn auch ein tragischer.

Wer so argumentiert, macht es sich leicht. Die Liste der tragischen Einzelfälle, in denen eine Frau von ihrem (ehemaligen) Partner getötet wurde, ist heuer bereits zu lang, um sie noch als solche zu führen. Weniger ohnmächtig macht diese Einsicht nicht. Denn bei allem, was eben kein Einzelfall ist, sollte sich doch gegensteuern lassen.

Das hier vergleichsweise naheliegende Thema: Wer keinen Zugang zu tödlichen Waffen hat, kann damit niemandem das Leben nehmen. Taten wie die des vergangenen Wochenendes sind ein trauriger Anlass, um auch in Österreich über strengere Waffengesetze nachzudenken. Aber das ist nur ein Teil des Problems. Selbst das absolute Verbot von Schusswaffen für Privatpersonen hätte nicht alle (Frauen-)Morde 2019 verhindern können. Auch die aktuelle Debatte um toxische Männlichkeit und Frauen nicht als gleichwertig sehende Geschlechterbilder greifen zu kurz. Gehäufte Tragödien wie diese sind nicht nur ein Problem von Individuen, die durch sich verschiebende Geschlechterrollen verunsichert sind - auch wenn der Schauplatz allzu oft die Mann-Frau-Beziehung ist. Den Nährboden für derartige Gewalt bereitgestellt zu haben, ist ein Armutszeugnis für eine ganze Gesellschaft. Ihr Versagen besteht darin, dass sie keine Mechanismen (mehr) hat, um Einzelne in ihrer existenziellen Kränkung aufzufangen, dass ihre Sensoren für menschliches, für seelisches Leid nicht funktionieren, dass kollektive Bindungsstoffe sich verflüchtigen oder Liebe auf dem Niveau einer Datingshow verhandelt wird.

Aus dieser allgemeinen Anklage ganz konkrete Maßnahmen abzuleiten, ist schwierig. Kein Fall ist in seiner Grausamkeit mit anderen vergleichbar, jeder getötete Menschen einer zu viel. Doch alle Taten entstanden unter den selben gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ein Nachdenken über diesen gefährlichen Nährboden hilft den fünf Toten in Kitzbühel nicht. Aber es ist ein erster Schritt, der helfen kann, neue Einzelfälle zu verhindern.