Otto Kernberg, einer der führenden Psychotherapeuten, über Trennlinien zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit.
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Die Frage nach dem Heilsvermögen der Psychotherapie ist so alt wie das erste Wirken vorgeschichtlicher Schamanen bei ihren Versuchen, Seelen (=Psyche) zu heilen. In einer Zeit, in der immer mehr Menschen die Hilfe von Seelentherapeuten in Anspruch nehmen, redet mit Otto Kernberg ein Berufener über Sinn und Unsinn bei der Behandlung psychisch Erkrankter. Als einer der führenden Psychotherapeuten der Gegenwart zieht er im Interview mit der "Wiener Zeitung" Trennlinien zwischen normal und abnormal. In seiner Geburtsstadt Wien bekam er es als zehnjähriger Jude mit den Nazis zu tun, in seinem Fach reüssiert er als Narzissmus-Experte.
"Wiener Zeitung": "Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?" heißt ein soeben im Herder-Verlag erschienener Dialog, in dem der deutsche Psychotherapeut Manfred Lütz Fragen zu Ihrem Leben und Ihrer Arbeit stellt. Wie kam es zu dem faszinierenden Gespräch?Otto Kernberg: Vor vielen Jahren hat mich Manfred Lütz an das Spital, das er in Köln leitete, eingeladen, um Seminare und Vorträge zu halten. Wir haben eine persönliche Freundschaft entwickelt und dann hatte er die Idee, unseren Dialog in Buchform fortzusetzen. Wir haben uns für zweieinhalb Tage in New York getroffen und ohne jede Vorbereitung gesprochen - es war ein gutes Erlebnis!
Sie sind bekennender Atheist. Was ist aus Ihrer Sicht Seele?
Seele ist das dynamische Zusammenwirken aller subjektiven und verhaltungsmäßigen Erfahrungen, die wir im Laufe des Lebens entwickeln. Sie ist die höhere Sphäre des psychischen Lebens, in der unsere emotional investierten Wertesysteme sich entwickeln: Formulierungen über die eigene Existenz, das Verstehen von Selbst und Anderen, des menschlichen Lebens und der Kultur, sowie die Fähigkeit, über sich realistisch nachzudenken: All diese psychologischen Funktionen und unsere Suche danach, was gut, wertvoll, wahr und schön ist, würde ich als Seele bezeichnen.
Sie gelten als der führende Experte für narzisstische Störungen. Was ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung?
Narzissmus ist völlig normal. Wir wollen uns wichtig und anerkannt fühlen und respektvoll und liebevoll behandelt werden. Wir wollen erfolgreich sein, unsere Wünsche erfüllen können und gute Beziehungen haben, die unseren Wert für uns bestätigen. Eine narzisstische Störung ist eine Störung der Wertschätzung seiner selbst und des normalen Gefühls der Selbstliebe und der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Narzisstische Persönlichkeiten leiden an entsetzlicher Unsicherheit und haben ein tiefes Gefühl, nicht anerkannt, nicht geliebt zu werden, das von frühesten Lebensjahren stammt.
Wie halten Narzissten das aus?
Um das entsetzliche Gefühl, minderwertig zu sein, zu kompensieren, entwickeln sie das gegensätzliche Gefühl, besonders wichtig und großartig zu sein. Es ist ein großartiges Selbstgefühl, das diese Menschen suchen, das ihnen das Gefühl gibt, besser als alle zu sein und es sich leisten zu können, auf andere herabzusehen. Sie sind von ihrer eigenen Wichtigkeit und ihren Ambitionen und Wunschträumen erfüllt und müssen erfolgreich sein, triumphieren, denn sie leben von Bewunderung als Ersatz für das tiefe, unbewusste Gefühl von Wertlosigkeit, gegen das sie ankämpfen müssen. Es ist eine abwehrende Großartigkeit, die von Bewunderung unterstützt werden muss.
Können diese Menschen Freundschaften eingehen und pflegen?
Sie können andere nicht in der Tiefe kennenlernen, weil sie nur an sich selbst interessiert sind. Sie haben keine Empathie dafür, was in ihnen vorgeht, denn sie leiden an einem primitiven Affekt im Übermaß: Neid. Sie sind von Neid erfüllt, wenn andere etwas haben, das sie nicht haben können. Sie reagieren, indem sie es entwerten. Das hat schwere Konsequenzen, auch in der Liebe. Sie verlieben sich sehr und müssen die geliebte Person bekommen. Aber wenn sie die Liebe, die sie so idealisiert haben, haben, entwerten sie sie unbewusst. Nach einer Zeit langweilt sie diese Person. Dann suchen sie eine neue Person, die sie ebenso unbedingt haben wollen und bekommen und dann wieder entwerten und leer ausgehen. Es entsteht eine sexuelle Promiskuität aus der Unfähigkeit, feste Liebesbeziehungen einzugehen.
Manchen Top-Managern wird Narzissmus zugeschrieben.
Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen können sehr gut funktionieren, wenn sie eine Fähigkeit haben, die es ihnen erlaubt, an der Spitze zu stehen. Dann sind sie große Künstler, Schriftsteller, Industrielle. Aber auf die Dauer kann man sie nicht ausstehen und sie wissen nicht, warum. Andere wiederum haben die Komplikation bösartiger Narzissmus. Sie greifen andere an, werden misstrauisch und rachsüchtig. Selbstbezogenheit und die Gier, sich alles anzueignen, geht so weit, dass sie antisoziale Züge entwickeln. Sie lügen, stehlen, schreiben falsche Schecks, können gefährlich werden.
Ist US-Präsident Donald Trump ein bösartiger Narzisst?
Ich stelle nie Diagnosen von Personen, die ich nicht in meiner Ordination gesehen habe. Manchmal ist öffentliches Verhalten eine bewusste Maske. Allerdings stimmt es, dass Trumps öffentliches Verhalten diese Züge von Großartigkeit, Aggression, Misstrauens, Rachsüchtigkeit und des dauernden Lügens zeigt, die bei einem Patienten eine solche Diagnose erlauben würden - abgesehen von der Intensität der antisozialen Einstellungen Adolf Hitlers, der eine schwere Persönlichkeitsstörung mit bösartigen narzisstischen Aspekten hatte, oder der paranoid-aggressiven Haltung Josef Stalins. Diese Persönlichkeitsstruktur, die Trump auf milderem Grad zeigt, ist für die Gesellschaft gefährlich und schädlich.
Was sagt das über die Wähler aus?
Es gibt sozial kritische Situationen, in denen sich in Bevölkerungsgruppen, die sich vernachlässigt fühlen, eine Masse entwickelt, die sich aus ihrer Situation befreien will und sich nach einem Führer sehnt, der ihnen eine brillante Zukunft verspricht und ihnen die Freiheit gibt, gegen Feinde aggressiv zu sein. Der Führer übernimmt die Verantwortung und verlangt Unterwerfung. In den USA verstärken sich eine massive soziale Regression und eine leitende Persönlichkeit mit diesen Charakteristika.
Sie sind 1928 in Wien geboren und mussten die Novemberpogrome 1938 miterleben, bevor Sie mit Ihren Eltern nach Chile emigrierten. Welche Gefühle verbinden Sie mit Wien?
Meine ersten zehn Jahre waren sehr glücklich. Mein Vater liebte Wien. Er zeigte mir alles - Straßen, Gebäude, Museen, Kinos. Er schmuggelte mich sogar in Filme, die für Kinder verboten waren. Ich liebte die deutsche Sprache. Ich war ein Einzelkind, leider verwöhnt, aber meine Eltern wollten mir alles bieten, was sie konnten. Mein Vater war vertrauensvoll, meine Mutter hatte paranoide Züge - und das hat uns das Leben gerettet! Sie sagte, wenn wir nicht auswandern, werden sie uns ermorden - sonst wäre ich nicht hier, um Ihnen das alles zu erzählen. Wir gingen am 16. Juli 1939 im letzten Moment nach Italien. Ich hatte das Glück, nichts mit Konzentrationslagern zu tun zu haben, aber ich sah genug, um mir später darüber Gedanken zu machen.
Haben diese frühen Erlebnisse Ihr Interesse für Psychotherapie geweckt?
Ich war von klein auf vom Ärzteberuf beeindruckt, weil meine Mutter wegen allen möglichen Symptomen zum Arzt ging. Mein Onkel Manfred Sackel leitete ein psychiatrisches Spital und entdeckte die Behandlung von Schizophrenen mit Insulin. Wann immer meine Mutter Probleme mit mir hatte, wurde Onkel Manfred gefragt. Nach dem Studium der Medizin in Chile bekam ich ein Stipendium, um Psychotherapie an der Johns Hopkins Universität in den USA zu studieren. Die Möglichkeit, Probleme der Persönlichkeit zu verstehen, faszinierte mich so, dass ich nichts anderes mehr tun wollte.
Heute leiten Sie ein Institut für Persönlichkeitsstörungen in New York. Wie viel arbeiten Sie?
Ich arbeite Montag bis Freitag von acht bis 20 Uhr. 50 Prozent meiner Zeit sehe ich Patienten, 25 Prozent forsche ich und 25 Prozent unterrichte ich. Wir haben auf empirischer Basis eine Therapie entwickelt zur Behandlung von schweren Persönlichkeitsstörungen und beobachten mit Mitteln der Hirnforschung, welchen Einfluss das auf die Balance unterschiedlicher Gehirnstrukturen hat. Es macht mir großen Spaß!
Otto Friedmann Kernberg, geboren am 10. September 1928 in Wien, ist Psychiater und Psychoanalytiker in den USA. 1939 musste Kernberg mit seiner Familie seiner jüdischen Herkunft wegen Österreich verlassen und emigrierte nach Chile. Seit 1976 ist er Professor für Psychiatrie an der Cornell University. Er praktiziert in New York.