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"Nationalismus gilt am Balkan als sexy und cool"

Von Alexander Dworzak

Politik
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Autorin Stela Jelincic hofft auf "zivilisierenden Effekt" durch EU-Beitritt.


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"Wiener Zeitung": Der Balkan produziert mehr Geschichte, als er konsumieren kann, sagen Sie in Anlehnung an Winston Churchill. Was verstehen Sie darunter?Stela Jelincic: Die vergangenen 100 Jahre waren von Gewalt geprägt, angefangen von den Balkankriegen 1912/13 über die Ermordung Franz Ferdinands und die Weltkriege bis zu den Kriegen in den 1990ern.

Was macht die Balkanstaaten so anfällig für Kriege?

Wir produzieren nicht nur viel Geschichte, sondern erfinden sie auch, überinterpretieren Ereignisse. Wir sind davon besessen, nationale Identitäten zu schaffen und Unterscheidungen zwischen uns und den anderen zu treffen.

Wen meinen Sie mit "wir"?

Kroaten, Serben, Bosniaken und Kosovaren.

Erfolgen jene Unterscheidungen, um die Existenz des eigenen Staats zu rechtfertigen?

Genau. Im Alltag sind die Unterschiede marginal, etwa in der Sprache. Die Vorstellung, dass Kroatisch und Serbisch andere Sprachen sein sollen, ist ein Scherz - obwohl sie unterschiedliche Alphabete haben. Die nationalen Identitäten werden über Religion, Tradition, Patriarchalismus, Dogmatismus und Primitivität konstruiert.

Sie beschreiben Identität nicht nur als Problem, sondern auch als Aufgabe. Worin besteht diese?

Wir müssen unsere blutige Geschichte aufarbeiten. Der Hass unter den Jugendlichen ist heute größer als in den 1990ern - sei es gegen andere ethnische Gruppen, Atheisten oder Homosexuelle. Die Kindern lernen diesen Hass aus den Schulbüchern, von Eltern und Freunden.

Wie präsent ist der letzte Balkankrieg im Alltag und den Erzählungen der Menschen?

Sehr. Außerdem gilt Nationalismus am Balkan als sexy und cool. Nationalistische Äußerungen werden nicht geahndet.

Wie kann diese Stimmung verändert werden?

Es muss endlich ausgesprochen werden, welche Übel Krieg und Hass sind.

Ist das nicht offensichtlich bei 100.000 Toten alleine im Bosnienkrieg 1992-95?

Der Krieg wird heute wie ein Souvenir beworben. In Mostar sieht man im Museum den ganzen Tag die Zerstörung der berühmten Brücke, und in der Stadt kann man Projektile kaufen, die in Schlüsselanhänger eingearbeitet sind. Wir müssen einen vernünftigen Umgang mit der Vergangenheit finden, der das Leid der Opfer ernst nimmt, dabei aber nicht wieder in Hass verfällt.

Sie haben Mostar, Vukovar, Skopje und Kosovska Mitrovica in Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien und dem Kosovo besucht. Welche Eindrücke gewannen Sie?

Serbische Kinder gehen in Vukovar vormittags zur Schule, kroatische am Nachmittag. Sie treffen einander nur dann in der Schule, wenn Englisch gesprochen wird. In Mostar teilt der Fluss Neretva die Stadt in einen kroatischen und einen muslimischen Teil. Am unwohlsten fühlte ich mich in Kosovska Mitrovica. Als Kroatin war ich bei den Serben unbeliebt, gleichzeitig hielten mich die Kosovaren aufgrund meiner Muttersprache für eine Serbin. Ich wurde gewarnt, nicht Kroatisch auf der Straße zu sprechen und habe mich auf Englisch unterhalten.

Kann ein EU-Beitritt der Balkan--Länder Abhilfe schaffen?

Ich hoffe auf einen zivilisierenden Effekt. Aber zuerst müssen wir Verantwortung übernehmen.

Wie wird die EU wahrgenommen?

Als böse Eltern, die Kinder bei Fehlverhalten strafen, und gleichzeitig als Schwächlinge. Politiker vom Balkan sprechen mit doppelter Zunge: in Brüssel gemäßigt; daheim angekommen, schlagen sie nationalistische Töne an.

Zur Person



Stela Jelincic,

kroatische Autorin, ist derzeit Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. vat