Der Westbalkan befindet sich seit 1995 in einer Transformationsphase - mit bescheidenen Resultaten, sagt Ökonom Gligorov.
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"Wiener Zeitung": 20 Jahre sind vergangen, seit das Friedensabkommen von Dayton Bosnien und Herzegowina die freie Marktwirtschaft vorschrieb. Wie erfolgreich war die Transformation in den Ländern des Westbalkan bisher?Vladimir Gligorov: Der Übergang in den Staaten des Westbalkan fand aufgrund von politischen Spannungen verspätet statt und begann erst um 2000, nach Ende des Kosovo-Krieges, als Tudjman (ehemaliger kroatischer Präsident, Anm.) tot war und Milosevic (ehemaliger serbischer Präsident, Anm.) die Wahlen verloren hatte. In Montenegro kann man erst ab der Unabhängigkeit von Serbien 2006 von Transformation sprechen - und der Kosovo ist noch einmal eine andere Geschichte.
Was sagen die Zahlen?
Die Jahre 2000 bis 2008 liefen gut, bedenkt man, dass diese Region in den 1990ern einen ökonomischen Zusammenbruch erlitten hatte. Es gab Wachstumsraten. 2009 schlitterten Bosnien, Kroatien und Serbien in die Rezession. Kroatien verzeichnet bis heuer einen ständigen Abfall im Bruttoinlandsprodukt. Sieht man sich Beschäftigungszahlen, industrielle Produktion, BIP, Armutsraten und den Lebensstandard der letzten 15 Jahre in der Region an, so ist der Schnitt in der Region nicht berauschend.
Während der Proteste in Bosnien 2013 forderten die Demonstranten unter anderem eine Rückgabe der Fabriken an die Arbeiter. Ist das der Wunsch nach einer Rückkehr zum jugoslawischen Sozialismus?
Es gibt dieses Gefühl, dass das Volk durch unfaire und de facto korrupte Privatisierungsvorgänge seines Besitzes beraubt wurde. Das ist einer der Gründe für die abwehrende Haltung gegen Privatisierung in der Region. Die Idee der Selbstverwaltung ist aber nicht mehr verbreitet, am ehesten noch in Slowenien. Außerdem ist in den meisten Fällen nicht viel übrig, das man den Arbeiter zurückgeben könnte. Die Industrie in der Region wurde während der letzten 25 Jahre auf die eine oder andere Art zerstört.
Was vermissen die Menschen am alten System?
Viele würden gerne sehen, dass der Staat eine aktivere Rolle bei sozialen Themen übernimmt, bei Pensionen etwa, oder wenn es um den Arbeitsmarkt geht. Es ist eine bedauernswerte Eigenschaft der Westbalkan-Länder, dass die Politik sehr wenig auf soziale Probleme reagiert. Parteien gewinnen die Wahlen mit nationalistischen Themen statt mit Lösungsvorschlägen für soziale Probleme; und das, obwohl die wirtschaftliche Situation seit fast drei Jahrzehnten ziemlich düster aussieht.
Serbien wird oft als mögliches Zugpferd der Region gesehen. Wie viel hängt tatsächlich von der Wirtschaftsentwicklung des Landes ab?
Sowohl Serbien als auch Kroatien sind Netto-Exporteure in die anderen Länder der Region. Würde Serbien großes Wachstum erfahren, so hätte das Vorteile für die anderen Länder, jedoch weniger über den Handel als über die Ankurbelung von Investitionen. Man muss auch bedenken, dass all diese Leute am Westbalkan mehr oder weniger dieselbe Sprache sprechen. In guten Zeiten gab es immer wieder Bedarf an Saisonarbeit im Tourismussektor in Kroatien.
Wirkte sich die globale Finanzkrise negativer auf die Armutsrate am Westbalkan aus als in den EU-Staaten Bulgarien und Rumänien?
Sieht man sich Löhne und die generelle soziale Situation an, so könnte man sagen, dass Bulgarien noch immer sehr viel ärmer ist als der Rest des Balkans - mit Ausnahme des Kosovo und Albaniens. Rumäniens BIP pro Kopf ist zwar nicht viel höher, doch die Gesamtsituation ist ein wenig besser. Viele Westbalkan-Staaten hängen davon ab, dass die Diaspora Geld nach Hause schickt. In manchen Fällen macht das mehr als 10 Prozent des BIP aus, sehr viel mehr als in Bulgarien. Ohne dieses Geld gäbe es im Kosovo und in Albanien wahrscheinlich ein soziales Disaster.
Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise signalisierte Russland, seinen Einfluss am Westbalkan wieder ausweiten zu wollen, die Türkei investiert einiges in der Region und nun tun dies auch arabische Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate...
Viele Parteien und Eliten der Region sind Klienten anderer Länder. Die USA etwa haben sehr viel Einfluss. Die Türkei hat ein Interesse in manchen Teilen Bosniens, Serbiens und Mazedoniens, aber das ist kein strategischer Einfluss. Russland betreibt momentan eine Menge Propaganda und investiert viel Geld dafür. Moskau glaubt, dass die Menschen am Balkan Russland lieben werden. Das ist das Einzige, was von Russland kommt, seit das Pipelineprojekt South Stream gescheitert ist. Ich glaube nicht, dass das eine Alternative zur EU darstellt, die EU ist ein langfristiges Projekt der Länder in der Region.
Bosnien hat das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben, das heuer implementiert werden soll. Was wird sich dadurch verändern?
Anfangs nicht sehr viel. Diese Abkommen sollen in erster Linie zu einer Handelsliberalisierung führen, doch das ist mit Bosnien längst geschehen. Jetzt geht es eher um die Transformation der politischen Rahmenbedingungen. Der EU-Beitrittsprozess könnte vielleicht die Institutionen Bosniens reformieren und sie funktionaler machen. Wenn das einmal geschehen ist, kann das natürlich einen sehr positiven Einfluss auf Investitionen haben.
Mazedonien steckt mitten in einer politischen Krise. Wirkt sich das negativ auf die Wirtschaft aus?
Momentan haben wir keine Daten, die darauf hinweisen würden. Ausländische Investitionen sind ohnehin gering, da hat sich auch nicht viel verändert. Momentan ist es ein reines Demokratieproblem. Wenn dies Krise jedoch anhält, könnte das durchaus bedeutende Effekte auch auf die Wirtschaft haben.
Zur Person
Vladimir Gligorov
ist Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) und Sohn des ersten mazedonischen Präsidenten Kiro Gligorov.