Zum Hauptinhalt springen

Nationalismus und Internationalismus

Von Rudolf Teltscher

Gastkommentare

Undemokratische Regime verwenden gerne ausländer-, fremden- und minderheitsfeindliche Denkstrukturen. Selbst die in ihrer ideologischen Basis internationalistisch angelegte Sowjetunion betrieb den Rückgriff auf Nationalismus (schleichende Russifizierung der Minderheiten) und Antisemitismus, auch wenn das Lippenbekenntnis anders lautete. Das traditionelle Selbstverständnis der Chinesen ist von einem ausgeprägten habituellen Gefühl und Anspruch der Überlegenheit gegenüber Nichtchinesen geprägt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die "endgültige" Klärung der Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Tibet 1959, verbunden mit der Flucht des Dalai Lama, brachte neben dem Machtzugewinn auch eine nur gewaltsam unter Kontrolle zu haltende Minderheit; erschwerend dabei ist, dass diese offenkundig vom ideologischen Mainstream abweichende Meinungen - noch dazu religiöser Natur - vertritt.

Aus Sicht des Regimes kommt als weiteres Problem dazu, dass diese Minderheit über einen international hochangesehenen Repräsentanten verfügt, dessen Auftritte Tibet im Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit präsent halten. Jeder Tourist mehr, der Tibet besucht (was im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung Chinas nicht mehr so leicht zu verhindern ist wie früher), wird nolens-volens zum Botschafter Tibets in der Welt und untergräbt Chinas Autorität (Reisen nach Tibet werden daher jetzt schleunigst untersagt); dieser bleibt dann nach ihrem Selbstverständnis nur der Rückgriff auf harte repressive Maßnahmen.

Zeuge dessen ist derzeit die staunende Weltöffentlichkeit; sie wird im Vorfeld einer großen internationalen PR-Kampagne namens Olympische Spiele mit nationalistisch, machtpolitisch und ideologisch begründeten Repressionen konfrontiert, die völlig im Widerspruch zu der sonst von China nach außen präsentierten Politik stehen, und weiß sich keinen Reim darauf zu machen. Fasziniert von Chinas rapider Wirtschaftsentwicklung und den damit verbundenen enormen Verdienstmöglichkeiten sahen große Teile der Weltöffentlichkeit gerne darüber hinweg, dass sie es in der Volksrepublik China unverändert mit einem kommunistisch-diktatorischen Regime zu tun haben, das sich im Fall Tibet zusätzlich die nationale Grundorientierung seiner Mehrheitsbevölkerung zunutze machen kann.

Der Drache im Schafspelz ist plötzlich in Gefahr, durchschaut zu werden. Da wir es im Unterschied zu 1980 (Afghanistan) aber mit keinem internationalen, sondern einem innerstaatlichen Konflikt zu tun haben, ist ein rasches Abebben der internationalen Erregung zu erwarten. Sportler um Chancen auf Medaillen zu bringen, gilt ja fast schon als unethisch - und 1936 war ja schließlich auch alle Welt in Berlin präsent.

Rudolf Teltscher studierte Philosophie, Psychologie und Anthropologie in Wien und ist als Unternehmensberater in Russland und der Slowakei tätig.

Alle früheren Beiträge dieser Rubrik unter: www.wienerzeitung.at/ gastkommentar