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NATO sieht sich seit dem 11. September von Washington an den Rand gedrängt

Von Thomas P. Spieker

Politik

Brüssel - In den endlosen Fluren des NATO-Hauptquartiers am Stadtrand von Brüssel ist es still geworden in den letzten Monaten. Dabei befindet sich das Bündnis seit den Terroranschlägen in den USA erstmals in seiner Geschichte im "Verteidigungsfall". Doch angesichts der Tatsache, dass Washington den militärischen Beistand der Allianz weder will noch braucht, machen sich die Strategen in den tristen Brüsseler Amtsstuben Gedanken über die Zukunft der Allianz.


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Viele sehen die NATO durch die militärisch-politische Offensive der USA an den Rand gedrängt. Hinweise dafür kommen vor allem aus Washington selbst: Seine Raketenabwehr-Pläne setzt Präsident George W. Bush ohne große Rücksicht auf skeptische Europäer durch. Einschlägige Verträge berühren ohnehin nur die USA und Russland. Und im Kampf gegen den Terrorismus sucht sich Bush seine Partner nach den eigenen Vorgaben aus: "Der Auftrag bestimmt die Koalition, nicht die Koalition bestimmt den Auftrag."

Der Eindruck von einem Bedeutungsverlust der NATO wird auf der militärischen Seite noch verstärkt. Zwischen den militärischen Fähigkeiten diesseits und jenseits des Atlantiks liegen Welten. Ihren Rückstand könnten die Europäer nur allmählich und nur mit einem enormen finanziellen Aufwand aufholen. Dazu sind die meisten Länder aber weder bereit noch in der Lage. Weil Washington jetzt noch mehr Geld in die Rüstung pumpt, dürfte der US-Vorsprung sogar noch größer werden.

NATO-Generalsekretär George Robertson teilt die US-Kritik an mangelnder Rüstungsbereitschaft in Europa. Doch er warnt die USA davor, dieses Auseinanderdriften noch zu forcieren: "Afghanistan zeigt: Selbst Supermächte brauchen Verbündete für Stützpunkte, Treibstoff-Versorgung, Luftraum und Soldaten." Wenn sich aber die US-Streitkräfte immer weiter von allen anderen hinweg entwickelten, würde die Zusammenarbeit bald unmöglich, sagte Robertson bei der Sicherheitskonferenz in München Anfang des Monats: "Washington könnte vor der Wahl stehen, entweder alleine zu handeln oder gar nicht."

Auch politisch könne die Supermacht nicht ganz ohne die NATO auskommen, sagen europäische Diplomaten in Brüssel: "Die NATO sorgt für Stabilität in Europa und hält den USA damit auch den Rücken frei für anderes."

Aus dieser Sicht erhält auch die Erweiterung der Allianz nach Osten zusätzliche Bedeutung. Schon heute sind die 19 NATO-Staaten im Europäisch-Atlantischen Partnerschaftsrat mit 27 weiteren Ländern vereint - "die größte dauerhafte Koalition der Welt", rühmt Robertson.

Doch wird die NATO mit wachsender Größe auch schwerfälliger. Alle Entscheidungen müssen einstimmig fallen, obwohl die Einheitlichkeit des einstmals rein westlichen Blocks mit der Aufnahme historisch völlig unterschiedlich geprägter Länder nachlässt.

Von einem fest geschlossenen Militärpakt entwickelt sich die NATO mehr und mehr zu einem Bündnis loser politischer Kooperation. Bedingungslose Gefolgschaft kann Washington in Brüssel immer weniger erwarten.