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Naturgeschichte des Glaubens

Von Franz M. Wuketits

Reflexionen

Warum glauben Menschen an Gott? Welchen Zweck erfüllt Religiosität? Plausible Antworten darauf finden sich neuerdings aus evolutionstheoretischer und verhaltensbiologischer Perspektive.


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Religiöser Glaube tritt in sehr unterschiedlichen Ausprägungen auf und ist in allen menschlichen Kulturen beziehungsweise Gesellschaften anzutreffen. Einschließlich der verschiedenen Formen des Aberglaubens, Anbetungen von Kultgegenständen, Weltuntergangsmythen, Beschwichtigungsritualen und so weiter kann dieser Glaube - ähnlich den mit ihm oft verbundenen moralischen Vorstellungen - zu den anthropologischen Universalien gezählt werden.

Homo religiosus

Daher wurde der Mensch auch als ein "Homo religiosus" bezeichnet. Von allen bekannten Lebewesen auf der Erde ist er die einzige Spezies mit einer Disposition zu religiösem Glauben, der sich nicht zuletzt in der Hoffnung auf ein "Weiterleben" nach dem Tod im "Jenseits" manifestiert.

Dafür liefern Bestattungsrituale und Grabbeigaben schon aus prähistorischer Zeit umfassende Zeugnisse. Neueren soziologischen Untersuchungen zufolge sind über achtzig Prozent der heutigen Menschen religiös im weitesten Sinn und oft auch bereit, viel Zeit und Energie in ihren Glauben zu investieren.

Woher kommt diese so weit verbreitete Neigung, an ein "höheres Wesen" (oder gleich mehrere solcher Wesen) zu glauben? Wozu dient religiöser Glaube? Religiosität ist ein psychisches Phänomen und muss - wie alle Phänomene dieser Art - in der Evolution durch natürliche Auslese oder Selektion entstanden sein. Es ist heute ein Gemeinplatz, dass der Mensch nicht nur hinsichtlich seines körperlichen Aufbaus und seiner Körperfunktionen ein Resultat der Evolution darstellt, sondern dass sich auch seine psychischen und mentalen Leistungen in der Evolution allmählich entwickelt haben und zumindest in einfachen Vorstufen ebenso bei einigen anderen Lebewesen ausgeprägt sind. Neben der Frage "Woher?" stellt der Evolutionstheoretiker aber immer auch die Frage "Wozu?": Welchen Nutzen, welchen Vorteil bringt eine (körperliche, seelische, geistige) Eigenschaft ihrem "Träger"?

Im Hinblick auf den religiösen Glauben stellte schon Charles Darwin folgendes fest: "Das Gefühl religiöser Ergebung ist sehr kompliziert; es setzt sich zusammen aus Liebe, vollkommener Unterwerfung unter ein erhabenes, geheimnisvolles Etwas, einem starken Abhängigkeitsgefühl, Furcht, Ehrfurcht, Dankbarkeit, Hoffnung auf ein Jenseits und vielleicht noch anderen Elementen." Zwar betonte Darwin, dass nur ein Wesen mit höheren intellektuellen und moralischen Fähigkeiten eine so komplizierte "Gemütserregung" erleben könne, meinte aber auch, dass zumindest ein schwacher Anklang dieser Erregung beispielsweise in der Treue und Unterordnung eines Hundes gegenüber seinem Herrn erkennbar sei. Damit lieferte Darwin bereits erste und wichtige Impulse für eine Erklärung der Religiosität aus evolutionsbiologischer, evolutionspsychologischer und verhaltensbiologischer Sicht.

Nutzen oder Wahrheit?

In neuerer und jüngster Zeit haben sich Biologen wiederholt mit der Frage nach dem Ursprung und dem Zweck des religiösen Glaubens, mit "Gottes Nutzenfunktion" (Richard Dawkins), beschäftigt. Denn wenn ein Merkmal so weit verbreitet ist wie Religiosität, dann muss es auch Anpassungsvorteile haben; es wäre sonst von der natürlichen Selektion eliminiert worden. Der Gießener Biologe und Anthropologe Eckart Voland bemerkt dazu: "Wenngleich Religionen aus wissenschaftlicher Sicht keinen Wahrheitsanspruch erheben können, scheint religiöse Lebenspraxis mit adaptiven Vorteilen verbunden zu sein."

Diese Vorteile, so Voland, liegen vor allem in einer verbesserten Kontingenzbewältigung und einer Stärkung der Gruppensolidarität. Der Glaube an Gott hat also eine Naturgeschichte, die sich aus verschiedenen (biologischen und psychologischen) Bausteinen zusammensetzt.

Erklärungsnöte

Sobald er über ein reflexives Bewusstsein verfügte, muss schon der prähistorische Mensch die Welt um sich herum kritisch hinterfragt haben. Er begnügte sich nicht mehr damit, die für ihn erkennbaren Gegenstände und Vorgänge einfach zu akzeptieren und darauf im Dienste des Überlebens zu reagieren (sich beispielsweise vor den Unbilden der Natur zu schützen), sondern begann auch, nach Ursachen und Gründen zu suchen. Dabei schlitterte er, wie wir annehmen müssen, häufig genug in Erklärungsnöte: Wer oder was verursacht Regen, Blitz und Donner? Warum ist es in der Nacht finster? Was geschieht mit den verstorbenen Artgenossen?

Es darf nicht verwundern, wenn unser steinzeitlicher Ahne in Ermangelung der uns heute verfügbaren wissenschaftlichen Erklärungsmuster in Geistern und Dämonen die Ursachen für verschiedene - vor allem bedrohliche oder zumindest bedrohlich wirkende - Naturphänomene zu orten sich gezwungen sah.

Bemerkenswerterweise hielt schon Demokrit (460-371 v. Chr.), über zweitausend Jahre vor der Entdeckung der Evolution (!), folgendes fest: "Als die Menschen der Vorzeit die Vorgänge in der Höhe sahen, wie Donner und Wetterleuchten, Blitzschlag . . . und die Verfinsterungen von Sonne und Mond, gerieten sie in Furcht, weil sie glaubten, Urheber dieser Erscheinungen seien göttliche Wesen." Demokrit zählt zu jenen antiken Philosophen ("Atomisten"), die mit ihren Naturlehren die Menschen von der Furcht vor Göttern befreien wollten. Da wir heute für Blitz und Donner und alle anderen Naturphänomene kausale, naturwissenschaftliche Erklärungen parat haben, religiöser Glaube aber trotzdem noch immer weite Verbreitung findet, können die Erklärungsnöte des prähistorischen Menschen nicht seine alleinige Wurzel sein.

Verschiedentlich wurde in neuerer Zeit argumentiert, dass sich religiöser Glaube im Dienste des Gruppenzusammenhalts entwickelt hat, weil es in immer größer werdenden Gruppen notwendig wurde, einen starken sozialen Kitt zu finden. Das erscheint plausibel. Denn in Sozietäten, die in ihrer Größe über die altsteinzeitliche Horde von zwanzig oder dreißig Individuen weit hinausgehen, kann das soziale Band nicht mehr auf der Basis persönlicher Bekanntschaft und primärer sozialer Kontrolle geflochten werden. Einander persönlich nicht bekannte Individuen lassen sich aber durch einen gemeinsamen Glauben zusammenschweißen. Glauben verbindet.

Dabei sind die Glaubensinhalte unerheblich und es spielt keine Rolle, ob dem, was geglaubt wird, in der außersubjektiven Welt irgendeine Realität zukommt. Gemeinsamer Glaube stärkt das "Wir-Gefühl", welches eine Gruppe sowohl nach innen als auch nach außen stabil hält. Eine Gruppe mit ausgeprägtem Wir-Gefühl hat in der Konkurrenz mit anderen Gruppen, in denen dieses Gefühl schwächer ausgeprägt ist, entscheidende Vorteile.

Die maßgebliche Triebfeder der sozialen Evolution war kooperatives Verhalten der Individuen innerhalb einer Gruppe. In größeren Gruppen konnte und kann dieses Verhalten durch Gemeinsamkeiten, die die Individuen untereinander erkennen, aufrecht erhalten und gestärkt werden. Sind solche Gemeinsamkeiten nicht von vornherein gegeben, können sie künstlich hergestellt werden, zum Beispiel durch ein göttliches Wesen, dem sich eine signifikant hohe Zahl von Menschen unterordnet.

Dass auf diese Weise Herrschaftsstrukturen begründet wurden und werden, sei hier nur am Rande erwähnt. Das verbindende Gemeinsame gehört jedenfalls zum Kern jeder Religion. Nicht von ungefähr spricht man von "Glaubensgemeinschaften". Sie beten ihre jeweils eigenen Götter und Heiligen an und werden auch durch (gemeinsame) Rituale zusammengehalten.

"Religiöse Rituale", schreibt Voland, "spielen eine funktionale Rolle. Ihre Ausübung sorgt für eine emotionale Synchronisation derjenigen, die daran teilnehmen. Ohne emotional wirksame Rituale hätten Glaubenssysteme weder eine verhaltensbestimmende Tiefe noch eine motivierende Kraft." Sie sind, wie man ergänzen kann, ein Indikator dafür, wer "dazu gehört" und wer nicht.

Kann also religiöser Glaube mit allen seinen jeweiligen Manifestationen in Gottesdiensten, (religiösen) Festen, Pilgerreisen und so weiter einerseits als Folge elementarer, in der sozialen Evolution entstandener Dispositionen begriffen werden, so trägt er umgekehrt zu deren Stabilisierung und Verstärkung bei. Was freilich seine Schattenseiten hat. Denn je stärker ein "religiöses Wir-Gefühl" entwickelt ist, desto stärker ist die Tendenz, anders Denkende, anders Glaubende ("Heiden", "Ketzer") auszugrenzen, zu verfolgen und zu vernichten. Heilige Kriege zählen zu den düstersten Kapiteln der Menschheitsgeschichte.

Die Suche nach Sinn

Unser Erkenntnis- und Denkapparat ist so konstruiert, dass er überall nicht nur nach Ursachen, sondern auch nach Zwecken sucht. Und wo ein unmittelbarer Zweck nicht sichtbar ist, dort wird bald einer in "höheren Sphären" vermutet. Aus der Kognitionsforschung und Entwicklungspsychologie weiß man, dass schon Kinder teleologisch denken und allem eine bestimmte Funktion zuordnen. Zum Beispiel ist die Sonne dazu da, um uns zu scheinen, und es regnet, damit die Pflanzen wachsen. Von da ist es eigentlich nur ein kleiner Schritt zu der Vermutung, dass wir letzten Endes in einem sinnvollen Universum leben. Darüber machen sich Kinder, ihrer Natur gemäß, zwar zunächst keine Gedanken, es ist aber nicht schwer, ihnen im Weiteren die Idee einzupflanzen, dass die ganze Welt harmonisch geordnet und einem "Weltenlenker" untergeordnet sei.

Der Mensch ist das nach Sinn suchende und Sinn stiftende Lebewesen. Er ist in eine Welt geworfen, die ihm keineswegs nur freundlich gesonnen ist. Naturkatastrophen können binnen kürzester Zeit unzählige Menschenleben auslöschen und zerstören, was Menschen in mühevoller und langer Arbeit aufgebaut haben. Naturkatastrophen sind heute ohne Ausnahme einer (natur-)wissenschaftlichen, kausalen Erklärung zugänglich, die aber vielen Menschen nicht genügen will. Der verlängerte Arm jener "metaphysischen Urkraft", die schon unsere prähistorischen Vorfahren in Anbetracht der Naturgewalten ergriffen haben musste, hat auch in unserer vermeintlich so aufgeklärten Zeit noch Zugriff auf das Denken vieler Menschen, die sich eben nur in einer Welt eingerichtet wissen wollen, welche ihrem Leben a priori Sinn verleiht.

Zwar vermag auch religiöser Glaube an einer Naturkatastrophe nichts zu ändern, er kann aber anscheinend die Kontingenzerfahrung mildern und dem Glaubenden die Illusion vermitteln, dass letzten Endes alles seine Ordnung und seinen Sinn habe. Illusionen können durchaus nützlich sein. Sie haben sich in der Evolution durch natürliche Auslese gewissermaßen als flankierende Stütze eines Gehirns entwickelt, welches die Welt seines "Trägers" nicht einfach hinnimmt, sondern ihr oft genug mit Schaudern und Schrecken begegnen muss.

Illusionen vermögen den Menschen auch über den Ausblick auf sein eigenes Lebensende hinwegzutrösten. Als einziges der uns bekannten Lebewesen weiß der Mensch um seine eigene Vergänglichkeit, seine eigene Sterblichkeit. Dieses Wissen will verkraftet werden. "Hätte man", meinte Voltaire, "ein bisschen Liebe für uns, so ließe man uns sterben, ohne uns etwas zu sagen." Der Tod ist nicht zu beschwindeln. Aber wir können uns beschwindeln, in dem wir ihn nicht als endgültig hinnehmen, nicht als "Aus", sondern als (hoffnungsvollen) Anfang eines "anderen Lebens".

Tod und Jenseits

Die scheinbare Sinnlosigkeit der Naturgewalten provoziert religiöse Deutungen.
© Foto: John Tully/Corbis

Ohne das Todesbewusstsein hätte sich Religiosität - aus den genannten Gründen - wahrscheinlich auch entwickelt, aber doch in viel schwächerer Form als es tatsächlich der Fall ist. Praktisch jede Religion muss sich mit diesem Bewusstsein befassen (und tut es auch), denn nicht allzu viele Menschen dürften Sterben und Tod im Sinn von Thomas Bernhard als so normal hinnehmen wie Mittagessen.

Die aus prähistorischer Zeit überlieferten Zeugnisse weisen darauf hin, dass sich der Mensch schon auf der Stufe der Neandertaler auf irgendeine Weise mit dem Tod beschäftigt und Jenseitsvorstellungen ersonnen hat. Im Zusammenhang mit den archaischen Denkmustern von Schuld und Sühne und der - auch nicht neuen - Hoffnung auf Gerechtigkeit, erfüllt der Glaube an ein Jenseits Sehnsüchte des Menschen, die ihn zwar als irrationales Wesen ausweisen, aber eben offenbar auch zu seiner Natur gehören.

Verschiedenen Studien zufolge haben religiöse Menschen mehr Kinder und sind insgesamt glücklicher als ungläubige; sie greifen auch seltener zu Drogen und leben allemal verantwortungsbewusster als die "Gottlosen". Solche Studien sind mit Vorsicht zu genießen, nur zu leicht wird - wie bei vielen methodologisch vergleichbaren Untersuchungen aus anderen Bereichen (zum Beispiel in der Medizin) - Koinzidenz mit Kausalität verwechselt. Ganz allgemein lässt sich aber sagen, dass religiöses Verhalten - in welchen konkreten Formen auch immer es sich ausgeprägt hat - tiefsitzende Wurzeln in der Natur des Menschen aufweist und in Begriffen des (biologischen) Überlebens und der evolutionären Anpassung erklärbar ist.

Irdisches Phänomen

Daraus die "Wahrheit" irgendeiner Religion oder gar einen "Gottesbeweis" abzuleiten, wäre allerdings weit verfehlt. Vielmehr "müssen Religionsverwalter mit der möglicherweise kränkenden Einsicht fertig werden, dass Religion ein durch und durch irdisches Phänomen mit profanen Nutzenfunktionen innerhalb biologischer Zwecke ist" (Voland).

Mit anderen Worten: Wir sind nur von dieser Welt und alles, was unser trickreiches Hirn uns über "andere Welten", über "erste Gründe" und "letzte Zwecke" zu ersinnen erlaubt, muss der Prüfung der Evolution durch natürliche Auslese standhalten. Bislang hat religiöser Glaube diese Prüfung gut bestanden. Das kann auch in nächster und ferner Zukunft so bleiben - muss es aber nicht. Schließlich ist in der Evolution nichts für die "Ewigkeit" angelegt, und Vorteile von heute können sich als Nachteile von morgen herausstellen.

Franz M. Wuketits, geboren 1955, lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien und ist Vorstandsmitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung. Zuletzt erschien "Was Atheisten glauben", Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014.