Einheitliche Sozialstandards statt Lissabon-Strategie. | EU-Budget: Erhöhen statt sparen. | Erweiterung ist Mittel zum Zweck des Sozialdumpings. | "Wiener Zeitung": Im Jänner übernimmt Österreich die EU-Präsidentschaft. Über allen Detailfragen steht das Problem einer zu geringen wirtschaftlichen Dynamik. Was muss aus Sicht von Attac getan werden, damit die Ziele der Lissabon-Strategie auch erreicht werden?
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Christian Felber: Die EU verwechselt Ziele mit Instrumenten. Die Lissabon-Strategie setzt auf mehr Wachstum und Beschäftigung. Beides sind jedoch Mittel zum Zweck, damit es den Leuten besser geht. Die EU sollte sein: Wohlstand, Nachhaltigkeit und soziale Sicherheit. Lissabon muss durch einen Pakt für nachhaltige Entwicklung ersetzt werden.
Wir sind uns aber einig, dass nur mehr Wirtschaftswachstum diese Ziele erreichen kann, oder? Bernhard Obermayr: Ja, aber das Wachstum muss nachhaltig und sozialverträglich gestaltet sein.
Felber: Der EU fehlt es weniger an wirtschaftlicher Dynamik als an Binnennachfrage. Und die wurde in den letzten Jahren durch sinkende Einkommen und steigende Arbeitslosigkeit massiv geschwächt - und das hat auch negative Folgen für die Weltwirtschaft.
Wenn es so einfach wäre, Wachstum sicherzustellen indem Nachfrage gesteigert wird, warum geschieht dies nicht zumindest irgendwo? Felber: Weil es Interessensgegensätze gibt, und manche profitieren von einer hohen Arbeitslosigkeit. Trotz schwachem Wachstum verzeichnen viele Unternehmen Rekordgewinne.
Obermayr: Das Problem ist, dass man sich im globalem Wettbewerb an den niedrigsten und nicht an den höchsten Standards orientiert. Das führt zwangsläufig zu Sozialdumping und Sozialabbau. Und die Regierungen in der EU wollen den Wettbewerbsdruck hoch halten.
Wettbewerbsdruck und Knappheit sind aber Motor von Innovation. Wie soll die EU-Wirtschaft wettbewerbsfähig bleiben, wenn dafür kein Druck besteht? Obermayr: Es gibt Druck genug, von der Klimaerwärmung bis hin zur Knappheit fossiler Energieträger. Nur wird dieser Druck politisch nicht wahrgenommen. Es gibt aber auch positive Ausnahmen, etwa die Chemikalienrichtlinie Reach, die Konsumenten- und Umweltschutz stärker berücksichtigt. Für 2006 stehen Richtlinien zu erneuerbaren Energien und Energieeffizienz an - hier könnte Österreich wirkliche Signale setzen. Tatsächlich zählen wir hier jedoch zu den Bremsern.
Ganz oben auf der Agenda steht auch die heftig umstrittene Dienstleistungsrichtlinie. Zufrieden, dass Bundeskanzler Schüssel einen neuen Entwurf eingefordert hat? Felber: Statt einer Richtlinie sollte man sich besser mit der Schaffung eines einheitlichen europäischen Sozialmodells befassen.
Obermayr: Ziel müssten einheitliche Sozialstandards auf möglichst hohem Niveau sein. Das geht aber nicht ohne Hilfe für die Neuen. Angesichts der derzeitigen Nettozahlerhysterie bleibt den Neuen gar nichts anderes übrig, als Steuerdumping zu betreiben.
So etwas ähnliches wurde ja bereits versucht, nämlich die neuen deutschen Länder an das Wohlstandsniveau in den alten heranzuführen. Die Kosten waren enorm, die Ergebnisse bescheiden. Obermayr: Der Fehler war, die Ost-Mark quasi über Nacht um 300 Prozent aufzuwerten. Aber es stimmt: Natürlich wird das etwas kosten, einheitliche Sozialstandards gibt es nicht zum Nulltarif.
Was wird das kosten? Felber: Das gesamte Bruttoinlandsprodukt der 10 Neuen macht nur vier Prozent des BIP der EU-15 aus. Allein eine Umverteilung von 0,1 Prozent des EU-BIP entspricht bereits 10 Milliarden Euro. Die Kernaussage lautet daher: Ein einheitliches Sozialmodell auf hohem Niveau ist leistbar sowie sachlich und moralisch geboten.
Vor solch hohen Zielen steht aber noch die Einigung über das EU-Budget an. Obermayr: Das sollte man erhöhen, weil alle davon profitieren. Man muss sich nur anschauen, wofür derzeit Geld ausgegeben wird. Das EU-Agrarbudget ist ein Witz angesichts der Tatsachen, dass das Sterben der kleinen Bauern weiter geht, die Agrarindustrie gefördert und den Entwicklungsländern der Markt versperrt wird.
Felber: Ich möchte nur eine Zahl ergänzen: Wenn die neuen EU-Mitglieder in der Landwirtschaft 50 Prozent der Produktivität der EU-15 erreichen, wird dies zu vier Millionen zusätzlichen Arbeitslosen führen. Und die EU-Agrarpolitik hat einzig die Steigerung der Produktivität zum Ziel.
Auch die Erweiterung der EU wird ein Thema sein. Obermayr: Grundsätzlich befürworten wir die Erweiterung. Das Problem ist nur, dass Länder wie Rumänien dazu instrumentalisiert werden, das Sozialniveau zu drücken. Bei der Türkei ist die Frage: Will man das Land aufnehmen, um es an die europäischen Standards heranzuführen oder diese an die türkischen anzupassen?