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Nebenwirkungen eines Gesundheitssystems

Von Oliver Cyrus

Gastkommentare
Oliver Cyrus ist freier Journalist und Publizist. Er schreibt regelmäßig zu Themen der internationalen Politik.
© privat

Die Impfskepsis weist auch auf viel tiefer liegende Missstände hin.


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Wenn Menschen aus Angst vor Corona sich anstelle der Impfung mit einem Entwurmungsmittel vergiften, muss sich das Gesundheitssystem fragen, woher dieser Vertrauensverlust kommt. Ein Abrücken von der Wirklichkeit kann viele Ursachen haben. Bei manchen ist es pathologisch bedingt: rechtsextreme Brandstifter, dubiose "Wissenschafter" samt politischem Erweckungserlebnis oder selbsternannte Gurus mit Corona-Séancen. Bei anderen ist es berufsbedingt: "Agents Provocateurs", die fleißig über Soziale Medien alternative Fakten feilbieten, oder Politiker, die lügen, bis der Arzt kommt. Zu Letzteren zählen jene Soziopathen, die für ihre Karriere sprichwörtlich über Leichen gehen.

Die Mehrheit der Impfskeptiker sind ganz normale Menschen, die zu Tode geängstigt sind. Ihr tiefes Misstrauen entspringt den alltäglichen Erfahrungen eines Gesundheitssystems, das nicht müde wird, eines zu betonen: Das Menschliche spielt in unserer Hochleistungsmedizin selten eine Rolle, knallhartes Kalkulieren schon. Stichworte wie Zweiklassenmedizin, Pharmaskandale, unnötige Operationen, Gangbetten oder Pflegeskandale sind Metastasen, die schon seit Jahrzehnten die öffentliche Diskussion prägen. Das Misstrauen der "Kritiker" hat reale Gründe, nur ihre Angst treibt sie in einem kollektiven Wahn von Verschwörungsmythen und Fehlinformationen - ganz wie in Francisco de Goyas berühmter Radierung "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Hier wird die Wissenschaft stellvertretend für ein marodes wie korruptionsanfälliges Gesundheitssystem krankenhausreif geschlagen. Dabei dient Ersteres der Erkenntnis und dem Allgemeinwohl, während Letzteres der Sphäre der Politik, dem allzu Menschlichen entspringt.

So steht die Gesundheitspolitik abseits ihrer Werbebotschaften ganz besonders in der Pflicht. Könnte man zumindest glauben. Sie fördert gerne falsche Anreize, die jedes Vertrauen untergraben: Während die Fließbandabfertigung von Patienten lukrativ bleibt, führt das zeitintensive Engagement von Ärzten in die Verlustzone. Sinnlose Untersuchungen ("Überdiagnostik") werden selten von den Kassen unterbunden, und Zukunftweisendes wird einfach ignoriert. Ein Beispiel wäre die "Repositionierung" von Medikamenten, wo die Forschung neue Anwendungsmöglichkeiten für bereits bestehende Präparate entdeckt. Das macht sie billiger, schneller verfügbar und vor allem sicherer, aber weniger gewinnbringend. Die Privatwirtschaft hat meist wenig Interesse daran, weil das Originalpatent des Medikaments oft erloschen ist. Was sich für den einzelnen Unternehmer nicht rentiert, kann aber für den Staat überlebenswichtig sein. Durch Corona hat sich erstmals gezeigt, dass die medizinische Versorgung eine gewisse wirtschaftliche Autarkie voraussetzt: Sie wird zur Frage der nationalen Sicherheit.

Selbst unser Bildungssystem trägt sein Scherflein zur gesellschaftlichen Entfremdung bei: Dass das Medizinstudium seit Jahren überlaufen ist, liegt weniger daran, dass Albert Schweitzer zum Idol ganzer Generationen aufgerückt ist. Die soziale Wirklichkeit ist nüchterner: Die Humanmedizin wird als bessere Alternative zum Wirtschaftsstudium gesehen. Jene, denen der Mensch ein Anliegen ist, werden trotz großer Belastungen ihre Befriedigung finden, viele sind später enttäuscht, und nur wenigen erfüllt sich der Traum vom Reichtum als "Wellnessarzt" für Millionäre in irgendeiner Schickimicki-Einrichtung. Dagegen vegetieren viele (ausländische) Pflegekräfte in einem schwer durchschaubaren modernen Sklavenmarkt dahin. Sie bilden das Rückgrat der Pflege in einer Gesellschaft, die ihrer beamteten Müllabfuhr mehr Privilegien zugesteht als jenen, die sich um Alte und Kranke kümmern. Da erscheint die ganze Sterbehilfedebatte in neuem Licht.

Die verbale Ohrfeige vom "Staatsversagen" ist eindeutig politisch zu verstehen. Der endgültige Saldo ist noch offen: Milliardenschäden an der Wirtschaft, kaum bezifferbare Kollateralschäden, ein Dahinraffen höchst vulnerabler Gruppen wie Schwerstkranker und sozial Schwacher und eine gefährliche Radikalisierung angstgetriebener Menschen. Es bleibt die Frage zu klären, wie jene Politiker, die maßgeblich an der derzeitigen Misere mit mehr als 12.000 Toten die Hauptverantwortung tragen, noch ruhig schlafen können. Erfolg um jeden Preis, "koste es, was es wolle".