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Necla Kelek

Von Alexander U. Mathé und Ina Weber

Reflexionen

Necla Kelek, deutsche Sozialwissenschafterin türkischer Herkunft, über die Nicht-Integrierbarkeit des Islam in der westlichen Welt. | Wiener Zeitung:Frau Kelek, Sie sind gebürtige Türkin und in Deutschland aufgewachsen. Sehen Sie sich als deutsche Türkin oder als Europäerin? | Necla Kelek: Ich bin ein Kind der Aufklärung, das hat mich geprägt.


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Wie weit ist die Integration türkischstämmiger Deutscher? Als Faustregel gilt ja: "Was der Sohn vergessen wollte, sucht der Enkel zu erinnern." Das heißt echte Integration kann erst ab der vierten Generation gelingen.

Ich glaube auch, dass mit der dritten, vierten Einwanderergeneration plötzlich eine Identitätssuche beginnt. Eingewanderte Gruppen aus Spanien, Italien oder Portugal sind bereits zu 40 Prozent mit Deutschen verheiratet. Nicht so die türkischen Migranten. In der muslimischen Parallelwelt hat eine Mischehe lediglich bei vier Prozent stattgefunden. Das heißt, dass eine Mischung - was auch bedeutet, dass sich Werte vermischen - viel geringer ist bei muslimischen Immigranten.

Warum findet dieser Vermischungsprozess nicht statt?

Weil die Eltern in das Schicksal ihrer Kinder eingreifen. Türkische Eltern arrangieren Ehen. Das heißt, dass eine Importbraut ins Land, in den Haushalt, kommt, die wiederum die erste Generation ist. Hier ist also jede Generation aufs Neue die erste. Die Kinder sind dabei vollkommen zerrissen, weil der Vater in Deutschland geboren ist und die Mutter in Anatolien. Die jungen Männer, wollen oft diese Verheiratung nicht, aber sie beugen und unterwerfen sich. Da gibt es eine Kluft zwischen Seele und Ratio. Die Vernunft sagt, du musst das tun!

Woher kommt dieses Misstrauen gegenüber europäischen Werten?

Wer nach Istanbul zog und die anatolische Dorfstruktur verließ, ging Richtung Europa. Eine große Rolle spielte da der persönliche Freiheitsgedanke: In der Anonymität zu sein und endlich ohne Bevormundung der Großfamilie leben zu können. Dazu gehörten auch meine Eltern. Wir liebten alles was aus Europa kam - von Musik bis Mitbringsel. Als wir dann versuchten, wirklich nach Europa zu gehen - also es nicht nur nachzuleben - trat bei meinem Vater eine besonders große Enttäuschung ein. Er sah, dass er mit dieser individuellen Freiheit, auch die sexuelle Freiheit - zumal die der Frau - in Kauf nehmen musste. An der Herausforderung, die Tochter in diese Freiheit loszulassen, ist seine Modernität gescheitert.

Sie haben sich gegen ihn aufgelehnt?

Ja, mit 17 Jahren. Es ging ja so weit, dass wir ihm die Pantoffel tragen mussten, kein Wort sprechen, nicht reden, nicht lachen durften, wenn er da war. Da kam es dann zum Eklat. Ich sagte: "Nein, ich mache jetzt nicht mehr das, was dir gerade einfällt." Das war so, als hätte ich Gott in Frage gestellt.

Wie haben Sie es geschafft, aus ihrem streng muslimischen Elternhaus auszubrechen?

Mit Büchern. Genauer gesagt mit Romanen. Romane bieten Individuen die Möglichkeit, über sich selbst zu reflektieren. Sie gehen als Leser mit der Roman-Figur bis zum Schluss. Mit 14 Jahren war ich völlig am Ende und kurz vor dem Selbstmord. Und da hatte ich Scarlett ("Vom Winde verweht", Anm.). Es ist kein Zufall, dass es in arabischen Ländern keine Romane gibt. Es wird nicht zugelassen, weil man vor diesen Individuen Angst hat. Als ich mit 17 sagte, Du bist nicht mein Vater, geh endlich weg, wir hassen Dich, da habe ich das als Scarlett und nicht als Kelek gesagt.

Mussten Sie ein Kopftuch tragen?

Nein, weil wir eigentlich eine moderne Familie waren. Es gibt den Islam in der ritualisierten Form: ständiges Beten, tiefverschleierte Frauen, die das Haus nicht verlassen dürfen. Nein, wir waren schon eine kleinbürgerliche Familie. Aber, dass ich mit 13 Jahren sagen konnte, ich gehe heute Abend auf eine Geburtstagsparty einer deutschen Freundin, das ging auch nicht. Ich bin Scarlett bis heute dankbar, dass sie mich unterstützt hat. Ich wollte immer so sein wie sie. Sie hat ihr Land nie verlassen. Ich bin ja auch in Anatolien tief verwurzelt und werde die rote Erde meiner Großmutter stets in meinem Herzen tragen.

Gehören Sie eigentlich noch dem Islam als Religion an?

Man kann aus dem Islam nicht austreten. Sobald Sie einen muslimischen Vater haben, sind Sie - von natur aus - Muslimin. Dann sind Sie drinnen - und bleiben es auch für immer.

Würden Sie austreten, wenn Sie könnten?

Für mich persönlich gehöre ich keiner Glaubensgemeinschaft an.

Welche Rolle spielt für Sie der Islam bei der Integration?

Integration ist ja anstrengend: Man muss sich anpassen, die Sprache und neue Regeln lernen, abstrakt Denken. Der Islam bietet eine einfache Alternative. Er durchdringt alle Lebensbereiche und bietet eine komplette Wertvorstellung an, die eine Integration nicht mehr nötig macht. Man kann mit dem Handy am Ohr, tief verschleiert, ohne das Haus zu verlassen, in der Moderne leben.

Also ist der Islam in der EU eine Parallelwelt?

Da spielt sich vieles im Verborgenen ab. Ich bestehe zum Beispiel in Deutschland darauf, dass sich jeder registrieren lassen müsste, der sich ganz klar zum Islam bekennt. Die Islamvereine sprechen in Deutschland immer von 3,2 Millionen Muslimen. Auf diese hohe Zahl kommen sie aber nur deshalb, weil sie davon ausgehen, dass jeder, der aus einem islamischen Land kommt auch gläubiger Moslem ist. So versuchen sie ihre Vereine, ihre Moscheen, ihre politische Arbeit zu begründen und zu legitimieren.

Die Regierungen sollten da also verstärkt eingreifen?

Ja, der Staat ist zu passiv. Zur Zeit kann ja einfach jeder kommen und eine Moschee bauen. Aber so darf das nicht gehen. Der Imam sollte eine Prüfung ablegen müssen und Deutsch lernen. Der Staat sollte Einsicht in das Lehrmaterial haben, um zu sehen, was die dort machen. Das alles vor allem auch, um unsere Kinder zu schützen. Für mich hört die Freiheit jeder Kultur dort auf, wo Menschenrechte verletzt werden. Das ist vor allem das Recht der Frauen und Mädchen.

Sie haben einmal erklärt, dass die "Toleranz", die wir in Österreich und Deutschland leben, in der Aufarbeitung der NS-Ära wurzelt. Können Sie das näher erklären?

Seit dem Zweiten Weltkrieg, in dem gegenüber anderen Kulturen so schreckliche Ungerechtigkeiten passiert sind, wird eine Friedenspolitik betrieben, die sehr wertvoll ist. Diese friedfertige und tolerante Haltung wird aber missbraucht. Das kann einem Land zum Verhängnis werden. Denn auch Toleranz braucht Grenzen. Wenn die nicht gezogen werden, dann wäre das fatal. Dass man jetzt anfangen will, plötzlich einen anderen Blickwinkel einzunehmen, stört ja viele. Wenn wir aber nicht sagen, wo die Grenze ist, dann ist das kein Frieden mehr - weder bei euch noch bei uns in Deutschland. Aber auch das "bei euch" und "bei uns" muss aufhören. Wir sind eine Gesellschaft, in der alle Menschen, besonders die Kinder, gleichbehandelt werden müssen.

Sie haben drei Punkte angesprochen, weshalb Integration scheitern könnte. Der eine ist die sexuelle Freiheit in den europäischen Ländern. Der zweite: das persönliche Scheitern der Immigranten an ihren Erwartungen. Drittens könnten die Muslime nicht bereit sein, das Patriarchat aufzulösen. Fällt Ihnen ein weiterer Punkt ein?

Ja, die politische Dimension des Islam. Deshalb bin ich ja auch so vehement in die Öffentlichkeit gegangen. Ich habe den Islam mit meinen Eltern als Kultur gelebt und kennen gelernt. Ich behaupte daher, dass der Islam sehr wohl, wie die christliche Kirche, in einer zivilisierteren Form gelebt werden kann - so wie es auch in den 40er, 50er und 60er Jahren der Fall war. Die Wende kam mit der islamischen Revolution im Iran, die von einer neuen Identität sprach: "Warum eigentlich sollten sich Muslime an Europa oder Amerika orientieren. Das sind Menschen, die uns wirtschaftlich und ökonomisch ausnutzen und das brauchen wir nicht."

Ist der Islam per se nicht vereinbar mit westlichen Werten?

Sie können den Koran so oder so lesen. Meine Mutter hat mir Gott immer als Himmel vorgestellt, von dem ich immer beschützt werde. "Dir kann nie etwas passieren, Allah ist immer für euch da", hat sie gesagt. Wir müssen wieder zu einem zivilisierten Glauben finden: In die Kirche gehen am Sonntag, beten und dann am Strand vergnügen. Warum darf das ein muslimisches Mädchen nicht, warum muss es unter einem schwarzen Zelt schwitzen und sich verstecken und nicht aus dem Haus rauskommen, während sich der Bruder im Schwimmbad vergnügt? Wenn der Mann auch einen schwarzen Schleier trägt, weil das seine Sekte so sagt, dann ist das für mich in Ordnung, dann soll der sechsjährige Junge auch ein Kopftuch tragen. Dann gibt es keine Diskriminierung innerhalb der Brauchs. Aber solange es nur das Mädchen tut, damit er es besser hat, dann ist das Menschenrechtsverletzung.

Die Bedeckung des Hauptes gilt laut Islam doch für beide Geschlechter?

Ja, aber eine Verschleierung für den Mann gibt es nicht. Es fängt mit dem Kopftuch an und irgendwann wird es mit der Burka enden. Erst vor kurzem ist in Deutschland ein 12-jähriges Mädchen mit Burka in die Schule gekommen und hat gesagt, das sei seine religiöse Freiheit. Aber wo fängt die Freiwilligkeit an und wo hört sie auf? Kontrolliert der deutsche oder österreichische Staat wirklich, wer freiwillig ein Kopftuch trägt und wer nicht? Ein Vater kann doch nicht einfach irgendwelche Regeln aufstellen und sagen, die seien religiös begründet. Nirgends steht zum Beispiel, dass Mädchen nicht schwimmen dürfen.

Ich habe aber stapelweise Schreiben, die mir von Schulleitern gegeben wurden: "Meine Tochter schwimmt nicht mit. Sie ist Muslimin." Wenn ich akzeptiere, dass radikale Moslems Regeln aufstellen, in welche sich die österreichische Gesellschaft nicht einzumischen hat, ist das eine Gleichgültigkeit, die ich der Gesellschaft vorwerfe: Ihr schützt Eure Kinder nicht!

Aber man kann ein Mädchen doch nicht zum Schwimmen zwingen.

Jeder sollte schwimmen können.

Aber dadurch schränkt man ja seine Freiheit ein.

Das ist ein Freiheitsbegriff, über den man diskutieren muss. Damit wird einem Mädchen die Möglichkeit genommen, dass sie schwimmen lernt. Wer will denn das wirklich? Warum sollte ein Mädchen nicht schwimmen lernen wollen? Das Ganze hat ja System. Wenn Sie sich diese Religion genauer ansehen, kommen sie drauf, dass es da Verbote gibt, wo der Mensch beginnt, sich zu individualisieren. Und wer schwimmen kann, kann sich im Notfall selbst über Wasser halten. Das sollen Mädchen und Frauen aber nicht, weil sie Teil einer Gemeinde sind, die über sie verfügt. Sie dürfen nicht schwimmen lernen oder können, weil sie vielleicht dann noch anfangen, wegzuschwimmen. Wenn mit solchen Regeln die Rechte des einzelnen dermaßen verletzt werden, dann müssen sie verboten werden.

Was halten sie von Plänen, in öffentlichen Schwimmbädern eigene Stunden für muslimische Frauen einzuführen?

Überhaupt nichts. Das ist die vertikale Trennung der Gesellschaft, so wie sie die saudiarabischen Länder und der Iran am liebsten hätten. Eine Gesellschaft, wo Männer und Frauen einander nicht begegnen. Aber wir haben doch gerade in Europa endlich gelernt, dass Kinder gemeinsam wachsen müssen. Wenn ein demokratisches Land das unterstützt, dann weiß ich nicht, wo das enden soll.

In Österreich ist der Ausländer-Anteil in Schulen mit teilweise mehr als 60 Prozent oft sehr hoch. Der Erfolg leidet dadurch. Die ÖVP hat eine Quotenregelung vorgeschlagen, wie stehen Sie zu dieser Idee?

Das müsste man den Eltern überlassen, aber ich glaube, viele würden das gutheißen. Die Kinder würden ja auch abgeholt werden und in eine bessere Schule in einem anderen Stadtteil gebracht werden. Dort gibt es dann keine Gewalt, und das Kind läuft weniger Gefahr, kriminell zu werden. In Deutschland hat beispielsweise eine Schule zwangsweise Deutsch als Sprache im Schulhof eingeführt. Was war das für eine Aufregung: "Um Gottes willen, jetzt schreiben die auch noch vor, was man auf dem Schulhof zu reden hat." Und was ist passiert: Die Zahl der Anmeldungen von Kindern türkischsprachiger Eltern hat sich verdoppelt. Die haben sich gedacht: "In dieser Schule lernt mein Kind wenigstens Deutsch."

Aber wo ist die Grenze zwischen Religionsfreiheit und Anpassung zu ziehen?

Wir haben in den letzten 50 Jahren Werte errungen, zu denen wir auch stehen müssen. Wer will kann sie mit uns teilen.

Und wer nicht will?

Jeder kann glauben was er will. Aber wer einen Gottesstaat will, und dabei seine Kinder benutzt, um im Privaten seinen Staat aufzubauen, der kann nicht verlangen, dass die Demokratie ihm dabei hilft. Die Demokratie muss ihre Kinder vor diesen Gefahren schützen.

Necla Kelek wurde 1957 in Istanbul geboren. Sie stammt aus einer bürgerlich republikanischen Familie. Mit ihren Eltern kam sie als 10-Jährige 1968 in die Bundesrepublik Deutschland. Die moderne Familie in der Türkei wurde in Deutschland immer konservativer. Als sie 13 Jahre alt war, durfte sie nicht am Schwimm- und Sportunterricht teilnehmen und auch der Kontakt zu deutschen Freundinnen wurde untersagt. Als sie mit 17 dem Vater nicht mehr gehorchte, verließ dieser die Familie und kehrte in die Heimat zurück.

Sie machte eine Ausbildung als technische Zeichnerin, studierte Volkswirtschaft und Soziologie in Hamburg und promovierte mit einer Untersuchung über "Islamische Religiösität und ihre Bedeutung in der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern türkischer Herkunft". 2005 erschien ihr Buch "Die fremde Braut", das zum Bestseller wurde. Sie mischt darin Autobiografie, Lebensgeschichten türkischer Frauen und literarische Formen mit Bezügen zu ihrer wissenschaftliche Arbeit. Dass die türkische Tradition und islamische Religiösität einer Integration im Weg steht, macht sie am Beispiel der "Gelin", der aus der Türkei geholten Braut fest, die für eine "arrangierte Ehe" nach Deutschland geholt werde und dort keine Chance bekomme, sich zu integrieren. Für dieses Werk erhielt Kelek den Geschwister-Scholl-Preis. "Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes", 2006 erschienen, ist Keleks zweites Buch, für das ihr am 24. September der Corine-Sachbuchpreis verliehen wird.

Keleks Publikationen, die die Debatte um die Integration von Muslimen nicht zuletzt auch aufgrund internationaler Anschläge in New York und London, aber auch seit den Unruhen von Migranten in französischen Vorstädten anregten, stoßen auch auf Kritik. Vor allem bei islamischen Organisationen sind ihre Ansätze umstritten. Heute lebt die Autorin mit ihrem Lebensgefährten und ihrem Sohn in Deutschland.

Necla Kelek

"Zur Zeit kann ja

einfach jeder

kommen und

eine Moschee

bauen."